31. Juli 2013

Für Menschen mit Hummeln im Hintern

Pro und Contra »The Place Beyond the Pines«
Für Menschen mit Hummeln im Hintern
Zwei der momentan begehrtesten Hollywood-Granaten treffen in »The Place Beyond The Pines« aufeinander. Prompt geraten auch zwei Redakteure des Kinokalender Dresden aneinander.

Pro:

Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben: In den ersten fünf Minuten seines dritten Spielfilms »The Place Beyond The Pines« folgt Regisseur Derek Cianfrance in einer beeindruckend gefilmten Kamerafahrt Luke (Ryan Gosling) über einen Jahrmarkt. Schließlich fährt der junge Mann auf einem Motorrad sitzend in eine stählerne Kugel, in der er zusammen mit zwei seiner Kollegen Loopings fährt, die jeder physikalischen Regel widersprechen. Auch das hiesige Sarrasani-Programm bot vor einigen Jahren ein solch irrsinniges Spektakel, welches allein beim Zuschauen für (begeisterungsbedingte) Atemnot sorgt. Sollte dies also jemand für bloße Effektekunst halten, dem sei versichert: Alles echt!

»Pines« hat noch einige halsbrecherische Stunts dieser Art zu bieten. Wer ob Goslings schauspielerischer Vergangenheit nun aber ein zweites »Drive« erwartet, sollte besser gleich ein Ticket für »Fast & Furious 6« lösen. Denn »Pines« hat anderes zu erzählen: „Es geht um Erbe – um jenes, mit dem wir geboren werden, und jenes, das wir weiterreichen. Und es geht auch um die Entscheidungen, die wir treffen und um die, die dann Folgen für unsere nachfolgenden Generationen haben. Es ist die klassische Mär der Sünden der Väter, die die Söhne belasten“, gibt Cianfrance zu Protokoll und breitet diese Geschichte auf 140 viel zu kurzen Minuten aus: Während der Stuntfahrer Luke unerwartet Vater wird und mit Banküberfällen versucht, seiner neuen Rolle als Familienoberhaupt finanziell gerecht zu werden, kreuzt er auf fatale Weise den Weg des idealistischen Polizisten Avery (Bradley Cooper). Beider Handlungen wirken sich Jahre später auf ihre gleichaltrigen Söhne aus, die sich zufällig an einer Schule kennen lernen.

Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben: Beinahe jede Szene in »Pines« kommt bedeutungsschwanger und viel sagend daher, die Tattoos auf Lukes Armen erzählen dabei ebenso viel wie das nuancierte und meist dialoglose Spiel der Nebendarsteller Ray Liotta, Eva Mendes und Rose Byrne. Auch das gefühlvolle Auf-den-Arm-nehmen von Lukes Baby sagt mehr über Averys Beziehung zu seinem eigenen Nachwuchs aus, als es ein Drehbuchautor in Worte fassen könnte. Mit unzähligen solcher „kleinen“ Szenen erzählt der Film vom Kampf zweier Männer, sich ihrer familiären Verantwortung zu stellen. Dass ihre kurze Begegnung unwissend das Leben von mehreren Personen verändern wird, kommt dabei ebenso überraschend wie die stilistische Neuausrichtung, die Cianfrance nach diesem Moment wählt. Es bleibt nicht das einzige Mal. Ganz schön viel Stoff, ganz schön gewagt für einen einzelnen Film. Aber auch hier gilt: Wer es einfacher haben will, sollte besser gleich ein Ticket für »Fast & Furious 6« lösen.

Man muss es mit eigenen Ohren gehört haben, um es zu glauben: Schauspieler Gosling wurde trotz seiner jungen 32 Jahre schon häufig für sein scheinbar müheloses Verschmelzen mit seinen Charakteren gelobt. So verglich ihn der große Filmkritiker Roger Ebert nach »Drive« mit Steve McQueen und zählte Gosling bereits 2006 „zu einem der besten Schauspieler im zeitgenössischen Kino.“ Wenn er in »Pines« nun mit einer quiekenden weil angsterfüllten und panischen Stimme (im O-Ton) einen Banküberfall improvisiert und anschließend ohne erkennbaren Filmschnitt auf einem Motorrad über eine dicht befahrene Kreuzung flieht, beweist dies nur die Richtigkeit von Eberts Aussage. Laut Regisseur wiederholte Gosling jene Szene 18 Mal, um sie so perfekt aussehen zu lassen, wie sie nun im Film erscheint. Der Mann ist wirklich sein Geld wert!

Perfekt wirkt übrigens auch die Musikauswahl, für die Cianfrance Mike Patton, Frontmann der inzwischen legendären Rockband Faith No More, gewinnen konnte. Wen also die Bilder nicht schon zu Tränen rühren, wird spätestens beim Abspann-Song um ein Taschentuch bitten. Es sei denn, man sitzt in »Fast & Furious 6«.
Csaba Lázár

Contra

Da sitzt man voller Erwartung vor der Leinwand und die Kamera folgt Ryan Gosling drei Minuten lang über einen Jahrmarkt, ohne einmal sein Gesicht zu zeigen. Er steigt auf ein Motorrad und begibt sich in eine große Stahlkugel - mit zwei weiteren Motorradfahrern. Gefährlich, gefährlich - und erinnert ein bisschen an »Drive«.

Wenn Luke (Gosling) danach seine Ex Romina (Eva Mendes) wieder trifft und ihm klar wird, dass die Affäre mit ihr nicht ohne Folgen blieb, kommt einem ein bisschen »Blue Valentine« wieder hoch. Gosling will für das Mädchen und das Kind sorgen und tut dafür alles. Auch Banken ausrauben. Mit Wackelkamera und großer Motion Sickness Wahrscheinlichkeit, raubt er die erste Bank aus und düst dann mit seinem frisch dunkel lackierten Stuntmotorrad davon und in einen Truck eines befreundeten Werkstattarbeiters. Da übergibt er sich erst einmal kräftig - nett für die Authentizät, schlecht für alle, die schon von Motion Sickness geplagt waren. Gosling ist allgemein ein Mann vieler Taten und weniger der Worte. Nein, er spielt auch nicht mit Mimik, eher guckt er einen stundenlang an, bis er statt zu antworten einfach mitkommt. Durch diese Attitüde kam Figur Luke vielleicht erst in die Breduille des Bankraubes - denn sein letzter Coup ging nicht sehr gut aus.

Ganz nach der Art von Hitchcock´s »Psycho« wechselt nach einem Drittel des Filmes der Protagonist. Beide Figuren treffen sich in einer actionreichen Szene - scheinbar die einzige Szene im ganzen Film, bei der man wirklich "on the edge of your seat" sitzt. Bradley Cooper - grundverschieden zu Gosling - übernimmt den Staffelstab und führt den Plot weiter. Eines muss man dem Film doch lassen - die Geschichte ist gut aufgebaut und stimmig. Das große Manko ist jedoch seine Länge. Erst recht, wenn im zweiten Drittel großer Wert auf die Schuldgefühle und den inneren Konflikt von Coopers Charakter Avery eingegangen wird.

Ein Mann, der Ideale hatte und sie verraten hat, um ein Held zu sein. Die Schlüsselszene im Krankenhaus kommt aber etwas lapidar daher - man merkt zwar, dass er überlegt, was er antwortet, aber den wirklichen Konflikt merkt man erst viel, viel später. Und zwar, als er herausbekommt, dass der Kriminelle, den er getötet hat, einen einjährigen Sohn hatte, genau wie er selbst. Durch diese Begegnung verändert sich das Leben aller - und ganz besonders das der beiden Jungen. Diese spielen im dritten Teil des Filmes die vorrangige Rolle, allerdings passt der Charakter des Sohnes von Avery kaum zu dem seines Vaters. Lukes Sohn Jason erfährt im Laufe der Zeit, dass der Vater seines Freundes seinen eigenen Vater umgebracht hat - und will sich rächen. Erst an dem Sohn, dann aber doch an dem Vater. Er zeigt im Wald jedoch ein gutes Herz (nachdem Cooper wieder einmal auf die Tränendrüse drückt - aber auf eine gute und beeindruckende Weise) und verschwindet einfach - um sich später ein Motorrad zu kaufen und in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

»Place beyond the Pines« hat viele Eigenschaften von »Blue Valentine« - die Gleichheit wird nicht zuletzt durch das Zutun von Ryan Gosling unterstützt. Die Themen sind ähnlich, die Dynamik ähnlich starr und langsam. Nur schleppend bewegt man sich von einem Plotpoint zum nächsten. Nach einer Actionszene, folgen drei, die nur vor sich her plätschern. Von Cooper weiß man doch, aus »Silver Linings«, dass er auch große Streitszenen beherrscht. Hier wirkt er ernster, in sich gekehrter, im inneren Kampf mit sich selbst. Eine andere, ruhigere aber hervorragend gespielte Seite. Ryan Gosling kommt mir hier nicht anders vor als in den anderen Filmen auch. Der Rest des Casts ist hervorragend; von Eva Mendes, die nicht die ganze Zeit sexy gucken muss, über Ray Liotta, der zwielichtig wie immer geheime Machenschaften durchsetzt, bis hin zu Rose Byrne, die ewige Ehefrau. Wem langsames nachdenkliches Kino gefällt, für den sei »Place beyond the Pines« sicher ein schönes Drama um Schuld, Rache und die Vater-Sohn-Theatralik. Jedoch für Menschen mit Hummeln im Hintern hätte das Ganze etwas rascher über die Bühne gehen können.
Anne