29. März 2012

Als Tiger gesprungen und? - Pro und Contra »The Artist«

Viel zu sagen gibt es zwischen den Personen im Film nicht...
Als Tiger gesprungen und? - Pro und Contra »The Artist«
...beim Gespräch zweier Redakteure des Kinokalender Dresden über den Film allerdings schon.

Pro:
Hat es so etwas schon einmal gegeben? Zweifellos. Eine ganze Dekade lang sogar, bis die Idee aufkam, dem bis dato stummen Medium Film den Ton zu schenken. Und nun, 80 Jahre später, ist die Welt plötzlich wieder verzückt von einem Stummfilm. In schwarz-weiß. Zeichnet ihn mit fünf Oscars aus, macht ihn u.a. zum „Besten Film des Jahres“ und verweist Werke von Martin Scorsese oder Steven Spielberg auf die Plätze. Oder um es mit den Worten von Hauptdarsteller Jean Dujardin auszudrücken: „Dieser Film dürfte eigentlich gar nicht existieren.“

Wie also ist dieser Erfolg von »The Artist« bei Kritik und Publikum zu erklären? Immerhin präsentiert Regisseur Michel Hazanavicius weder in Form noch Inhalt Neues, bedient sich klassischer Inszenierungsmethoden und zeigt eigentlich nur das, was in den 1920er Jahren zum cineastischen Standard zählte – offenbar aber aus dem kollektiven Gedächtnis des heutigen Publikums weitgehend verschwunden ist. Denn abgesehen von ein paar Cineasten, die sich auch in klirrender Kälte vor das Brandenburger Tor stellen, um einer Wiederaufführung von »Metropolis« beizuwohnen, ist der Stummfilm in der heutigen Zeit kaum noch von Interesse. Man stelle sich den sonntäglichen „Tatort“ ohne Dialoge vor. Oder einen Stallone-Kracher aus den 1980ern (wobei das ohne Worte wohl tatsächlich funktionieren würde). Insofern war The Artist ein immenses finanzielles Risiko, künstlerisch hingegen ein absoluter Volltreffer.

Warum? Zum einen reduziert der Verzicht auf Gesprochenes den Film zwar um eine Form der Erzählung, verstärkt dadurch allerdings die pure Sprache der Bilder, der Gesichter, der Handlungsorte. Ein Auto fährt vorbei, ein Hund bellt, ein Telefon klingelt: Jeder kennt die dazugehörigen Geräusche, doch erst durch das Aussparen des Hörbaren beginnen wir, unsere Phantasie anzuregen, es auch ohne Ton wahrzunehmen. Zum anderen müssen die Schauspieler zeigen, dass sie auch nonverbal jede Emotion transportieren und verdeutlichen können. Wer sich in geselliger Runde einmal in Pantomime versucht hat weiß, wie schwer dies zu bewerkstelligen ist.

Diese zwei Dinge sind es dann auch, die »The Artist« zu dem Meisterwerk machen, das es zweifellos ist. Hazanavicius gelingt, was andere Filme nur vorgeben zu tun: sein Publikum zu fesseln (da jeder Blick weg von der Leinwand Informationsverlust bedeutet), dessen Phantasie anzuregen (wie mag das wohl jetzt klingen?) sowie jede Geste, jede Szene und jedes Bild in den Dienst der Erzählung zu stellen. Überflüssiges hat hier keinen Platz, Worte schon gar nicht, was zählt, ist die Empathie des Betrachters. Beispielhaft hierfür sei die Begegnung der Protagonisten George (Jean Dujardin) und Peppy (Bérénice Bejo) im Studiogebäude genannt, bei der beide auf unterschiedlicher Höhe auf einer Treppe stehen: Sie symbolisiert wunderbar den Karriereabstieg des Einen, während seine Kollegin auf dem Weg in den Starolymp ist.

Immensen Anteil am Gelingen dieses filmischen Experiments haben zweifellos Jean Dujardin und Bérénice Bejo, eines der charmantesten Leinwandpaare der vergangenen Jahre. Sie sind das Herzstück von »The Artist« und sprühen vor Leidenschaft, Grazie und Präzision in ihrer Art zu spielen, dass es einem die Tränen in die Augen treibt.

»The Artist« erinnert noch einmal daran, was Kino und Film in seinen Anfangsjahren einmal waren. Zugleich empfiehlt sich Regisseur Hazanavicius als ideenreicher Geschichtenerzähler, der mit einer Fülle an inszenatorischen Einfällen völlig dialog- und geräuschlos ein witzig-melancholisches Kleinod auf die Leinwand zaubert. Dujardin hat tatsächlich recht, wenn er sagt, so ein Film dürfte heute nicht (mehr) existieren. Aber im Kino ist bekanntlich alles möglich. Selbst so ein stummes Wunder wie »The Artist«.
Csaba Lázár


Contra:

Als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet! Hochgelobt war dieser Film des Franzosen Hasanavizus, und zahlreiche Gäste, ja auch viele Kritiker und Preise-Vergabe-Juroren sind darauf hereingefallen. Es ist, schlicht gesagt, Betrug! Ist der Film etwas länger als üblich, bezahlt man Zuschlag, kommt er in 3D zu Aufführung, bezahlt man Zuschlag - nicht zu knapp. Nun aber: keine Farbe, (fast) kein Ton - gibt es dafür Ermäßigung?

Zugegeben, das ist populistisch. Es sollte wohl ein Kunstgriff sein, eine Reminiszenz an die Gute Alte Zeit. Hallo, die ist vorbei! Seit über neunzig Jahren! Es reicht auch nicht, das gesprochene Wort nicht hörbar zu machen und die Dinge ihrer Geräusche zu berauben, sei’s nun das Glas, das auf den Tisch gestellt wird oder die Tür, die ins Schloss fällt, es fehlt etwas Entscheidendes - die Stimmung, das Gefühl. Natürlich muss das den Filmgenuss nicht automatisch schmälern, was aber leider in diesem Fall passiert und die starken Leistungen der beiden Hauptdarsteller in den Hintergrund treten lässt. Ein Sprichwort heißt: „Die Kunst liegt im Weglassen“. Diese Art von Kunst wurde hier leider nicht beherrscht, denn die gewohnte, vielfältige Klangkulisse durch eintönige, sich wiederholende, teilweise nervige Musik zu ersetzen, macht noch keinen Stummfilm aus.

Die Acedemy of Motion Pictures sah das leider nicht so. 10 OSCAR-Nominierungen hat der Film bekommen, niemand schrie: „Der Kaiser hat ja gar nichts an!“ und so gewann er auch in den wichtigsten Kategorien, lediglich der Preis für den besten Hauptdarsteller war wirklich gerechtfertigt!

Wir sollten die Akademie-Mitglieder wohl nach Dresden einladen, damit sie einen „wahren“ Stummfilm mit Live-Begleitung erleben. Dann werden sie schnell erkennen, dass sie im Jahr 2012 mit ihrer Entscheidung kräftig daneben gelegen haben.
TomLacht

http://theartist-derfilm.de