27. März 2018

Zwei sehr positive Reaktionen auf einen wunderbaren Film

Doppel-Pro – The Florida Project
Zwei sehr positive Reaktionen auf einen wunderbaren Film

„Das ist kein Film, zu dem man ein Contra schreiben kann“ war die einhellige Meinung in der Redaktion des Kinokalender Dresden. Daher nun zwei sehr positive Reaktionen auf das wunderbare »The Florida Project«.

 

Pro

Es beginnt fast plakativ. Die sechsjährige Moonee & ihre Freunde bespucken exzessiv ein Auto im Futureland. Das Futureland, eine Herberge für Leute kurz vor dem sozialen Totalabsturz, ein Motel für Arme, in grellem Lila gestrichen und mit strengen Regeln ist genauso eins wie das, in dem Monee mit ihrer Mutter lebt, die nie weiß, woher sie die nächste Wochenmiete nehmen soll. No Future.

Die Kinder spucken auf eine Zukunft, die sie nicht haben werden, aber das wissen sie noch nicht. Sie wohnen Minuten vor Disneyland, im hellen Licht Floridas, umstellt von Mittelklassehotels, von Touristen und keine Chance auf Teilhabe. 

Sie spielen und holen alles aus diesem Unort heraus, der ihr Zuhause ist, und wie fragil das Bleiben ist, spielt noch keine Rolle, nur wenn einer abreist, tut es weh. Sie gehen auf Safari, zünden Matratzen an und erkennen Schönheit, wenn sie sie sehen. 

Ein Wasteland als Abenteuerspielplatz - das ist keine besonders neue oder ungewöhnliche Idee, aber wie Regisseur Sean Baker (bekannt für seine mit unkonventionellen Mitteln gedrehten Außenseitergeschichten) visuell damit umgeht, ist atemberaubend und sehr schmerzhaft. Er dokumentiert nicht vordergründig soziales Elend, er zeigt den magischen Mehrwert von Kindheit. Es gibt Schutzengel, den Manager Bobby (the unbelievable Willem Dafoe) und die Nachbarn, diese krude Versammlung von Randexistenzen, stets herumraunzend, aber doch ein Auge auf die Kinder habend. Liebe findet statt, Mutterliebe, die ihr Scheitern nie verbirgt, aber immer anwesend ist. Moonees junge Mommy Halley (Bria Vinaite) spürt, dass sie Opfer des Systems ist und wehrt sich – mit welchen Mitteln auch immer. Aus der Kraft dieser unreflektierten Auflehnung zieht Moonee (herausragend: Brooklynn Prince) ihre Stärke. Sie klauen Glück, nehmen sich Feuerwerk, Regenbogen, die Rosinen vom Buffett der Bessergestellten, Himbeere und Erdbeere gleichzeitig. Es sollte Gabeln aus Zucker geben, sagt Moonee. Wow!

Die Chancenlosigkeit dieser aufgegebenen Community vermittelt der Regisseur durch den Sound. Die Schönheit der Bilder wird zerschnitten von den Rotorblättern der ständig landenden Hubschrauber, vom Lärm des nahen Highways. Bis auf Bobby verständigen sich Erwachsene wie Kinder schreiend, weil es eh so laut ist und weil sie sich nicht anders wehren können gegen die Zumutungen dieses Lebens. Stille ist Luxus. Und Disneyland so nah (Seven Dwarfs next signal) wird der unerreichbare Sehnsuchtsort bleiben.

Grit Dora

 

Pro, die Zweite:

Ob im Bus Richtung Büro, auf Zugreisen oder im Supermarkt: Lärmende Kinder sind – zumindest für den Autor dieser Zeilen – oftmals eine Geduldsprobe. Kann ja sein, dass ich andere während meiner Kindheit ebenso zur Weißglut gebracht habe (sorry, Mama, Papa und Bruderherz!). Ein Fan der kleinen Racker bin ich trotzdem nicht.

Insofern war es schon eine Herausforderung, im Kino ein Ticket für »The Florida Project« zu lösen, wohlwissend, dass darin ein paar Sechsjährige die Hauptrolle spielen. Und die machen ab Minute 1 genau das Erwartbare: Rumbrüllen. Sie tun aber auch etwas Unerwartetes: vom Fleck weg mein Herz erobern. Verdammt! Denn wer so charmant Bares für Eiscreme schnorrt, muss einfach geliebt werden: „Entschuldigen Sie! Haben Sie Kleingeld, bitte? Der Arzt hat gesagt, wir haben Asthma und müssen sofort Eis essen!“ Warum ist mir als Kind so was nie eingefallen?

Eingefangen hat das Ganze Sean Baker, dessen vorheriges Werk »Tangerine L.A.« vor allem Aufsehen erregte, da es komplett mit einem iPhone realisiert wurde. Für »The Florida Project« griff er zwar auf konventionellere Filmmethoden zurück, wagte dafür jedoch an anderer Stelle ein Experiment: Außer Willem Dafoe, der den herzensguten Hausmeister Bobby gibt, besetzte Baker seinen Film ausschließlich mit Laiendarstellern – und bringt so eine beeindruckende Alltagsrealität auf die Leinwand.

Aber wie bitte schön ist es Baker gelungen, seinen kleinen Leinwandhelden solche wunderbaren Szenen zu entlocken? Da wirkt nichts auswendig gelernt, verkrampft oder auf andere Weise manipuliert, sondern schlicht „echt“. Im Mittelpunkt: Die kleine Moonee (Brooklynn Prince), die mit ihrer allein erziehenden jungen Mutter Halley (Bria Vinaite) in einem Motel-Komplex nahe Disneyworld „wohnt“. Wer hier lebt, zählt zum Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette und ist wohl das, was der Einfachheit halber unter dem Begriff „White Trash“ zusammengefasst wird. Es ist für viele dort die letzte Station vor der Obdachlosigkeit, doch weder Halley noch Moonee oder ihre Freunde lassen sich davon runterziehen. Sie leben von Tag zu Tag und erfreuen sich an Dingen, die für andere längst langweilige Normalität sind: Feuerwerke, weidende Kühe und eben Eiscreme.

Regisseur Baker, dem ich hier einfach mal unterstelle, mit Hausmeister Bobby ein Alter Ego im Film zu haben, verteidigt diesen Schutzpanzer der Unbeschwertheit, solange es geht, ohne die harte, karge Realität zu ignorieren. Als die Fassade schließlich unvermeidlich einbricht, gelingt ihm eine bemerkenswerte Schlussszene, die auch handwerklich aus dem Rahmen fällt – und sehr lange nachwirkt.

Zum Aufrappeln nach dieser wilden Karussellfahrt aus Kinderperspektive empfiehlt sich ein Eis. Soll ja angeblich auch bei Asthma helfen. Und als (Freuden-)Tränentrockner sowieso.

Csaba Lázár

 

https://prokino.de/movies/details/The_Florida_Project