Pandoras Box
Großmutter Nusret hat Haare auf den Zähnen, obwohl sie während des ganzen Films etwa nur zwei dutzend Sätze spricht. Ein paar unbedeutende Falten haben sich in das Gesicht der 92-Jährigen eingegraben. Sie hat einen Blick, stechend blau und kein bisschen müde, und doch ist sie hilflos wie ein kleines Kind. Es ist Alzheimer. Irgendwo in den Bergen ihres Heimatdorfes wird sie aufgefunden und anschließend den aus Istanbul herbeigeeilten Kindern übergeben. Gedankenlos und von Nusrets Krankheit nichts ahnend, verschleppen sie die alte Frau in die Großstadt. Dabei sieht man den recht selbstsüchtig wirkenden Geschwistern sofort an, dass sie weder in der Lage dazu wären, ihre verwirrte Mutter zu versorgen, noch ihre Gegenwart überhaupt ertragen könnten. Genauso wenig, wie Großmutter Nusret wohl im Leben niemals Willens wäre, solches zuzulassen. Schnurstracks marschiert sie bei der erstbesten Gelegenheit zur Türe raus und verschwindet zwischen den Häuserfluchten, wohl wissend, dass jedes ihrer Kinder mit ausreichend eigenen Problemen zu ringen hat. Tochter Nesrins Ehe ist eine Farce, deren Sohn Murat treibt sich auf den Straßen herum und würde genauso gern auf Nesrins Teppich pinkeln, wie es seine verwirrte Oma tut. Nesrins Schwester Güzin leidet unter dem Verhältnis zu einem verheirateten Egoisten und beider Bruder Mehmet ist einfach nur ein versoffener Versager. Ausgerechnet in dessen Behausung treffen Enkel Murat und Großmutter Nusret zum ersten Mal aufeinander. Er knallt sich mit ein paar Joints zu, um zu vergessen, seine Oma kann sich eh nicht erinnern, warum sie hier ist, und doch sucht die Alte von diesem Moment an nach einer Gelegenheit, mit diesem Murat auszubüchsen. Sie hat Sehnsucht nach ihren Bergen und der Junge, der so heißt wie ihr verstorbener Ehemann, soll sie hinbringen. Mit leichter Hand gelingt der Regisseurin Yesim Ustaoglu gemeinsam mit der Grande Dame Tsilla Chelton das Erstaunliche: den Zuschauer beschleicht das Gefühl, dass Großmutter Nusret die Einzige sei, die wisse, wo sie hingehört und dass es ihre Kinder sind, die verloren gegangen sind. Weil sie ihnen binnen zweier Minuten lichten Verstandes klarmacht, dass sie ihr verdammtes Leben ändern müssen.
Buch: Yesim Ustaoglu, Selma Kaygusuz
Regie: Yesim Ustaoglu
Darsteller: Tsilla Chelton, Derya Alabora, Onur Unsal, Övül Avkiran, Osamn Sonant, Tayfun Bademsoy, Nazmi Kirik
Kamera: Jacques Besse
Musik: Jean-Pierre Mas
Produktion: Ustaoglu Films, Les Petites Lumieres, Silkroad Production, Catherine Burniaux, Serkan Cakarer u.a.
Bundesstart:
Start in Dresden: 07.01.2010