Lenin kam nur bis Lüdenscheid
Bis Solingen ist er nicht gekommen. Aber fünfundzwanzig Kilometer weiter östlich, im Zeltlager in Lüdenscheid, schien die Weltrevolution bereits geglückt“, erinnert sich Richard David Precht an den linken Kosmos seiner Kindheit. Geboren in einer Zeit, die von politischen Umwälzungen in Deutschland und der ganzen Welt geprägt ist: 1964 ist das Jahr, in dem die letzte gesamtdeutsche Olympiamannschaft bei Olympischen Spielen antritt, Bundeskanzler Ludwig Erhard die Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze zwischen Deutschland und Polen bekräftigt, der Oberste Sowjet Nikita Chruschtschow in Russland sämtliche Ämter verliert und die ersten Menschen in Solingen und anderswo gegen die Gefahr eines Atomkrieges demonstrieren. Während sich das Gesicht der Welt auf dem globalen politischen Parkett tief greifend verändert, versucht eine Solinger Familie, sich und ihren Kindern ein kleines linkes Universum inmitten kapitalistischen Feindeslandes zu konstruieren. Richard David Precht, auf dessen gleichnamigem Buch der Dokumentarfilm basiert, liefert so eine besondere Sicht auf das wichtigste Kapitel der jüngsten deutschen Geschichte - den freien, naiven Blick eines Kindes und gleichzeitig ein Fallbeispiel, das die „68er“ im Jubiläumsjahr 2008 in ein neues, mindestens so unterhaltsames wie erhellendes Licht rückt.
Der Film ist eine liebevolle Auseinandersetzung mit der Wucht idealistischer Erziehung, die so fortschrittlich daherkam, aber ein Kind nicht wirklich auf die Zukunft vorbereitete. Mit ironischem und selbstironischem Blick zeichnet der Autor zusammen mit dem Kölner Dokumentarfilmregisseur André Schäfer eine Kindheit in der westdeutschen Provinz nach - und bringt die großen Ereignisse jener Jahre in ganz andere, kleinere und sehr private Zusammenhänge.
Wie wirkt dieser Film wohl auf Menschen, die der „Lenin-Verehrung“ nicht ganz freiwillig ausgesetzt waren? Man reibt sich verwundert die Augen, dass es also solche „Vertreter der westdeutschen Arbeiterklasse“ wohl tatsächlich gegeben haben wird, allerdings nicht gerade als Arbeiter und dafür eher als Exoten denn als Klassenvertreter.
Ein schöneres „Gegenstück“ als »Kinder, Kader, Kommandeure - 40 Jahre DDR-Propaganda« kann man sich da fast nicht vorstellen.
Buch: Richard David Precht
Regie: André Schäfer
Produktion: Florianfilm, WDR, SWR
Bundesstart: 05.06.2008
Start in Dresden: 05.06.2008
FSK: ab 12 Jahren