22. Oktober 2021

Keine Gewissheit mehr, gar nicht !

Durchgeknallte Psychositzung auf ­Drogen oder radikales Autorenkino. »Helden der Wahrscheinlichkeit«, Kritik, Pro & Contra
Keine Gewissheit mehr, gar nicht !

Huch, was war das denn? Eine durchgeknallte Psychositzung auf Drogen oder radikales Autorenkino? Unsere Autoren sind verstört und erneut nicht einer Meinung.

Pro

Eine Frau stirbt bei einem Zugunglück, weil der höfliche Otto (Nikolaj Lie Kaas) ihr seinen Sitzplatz anbietet. Hätte sie sich nicht gesetzt, wäre sie noch am Leben und Otto tot. Der frisch gefeuerte Stochastiker fühlt sich schuldig. Er geht der Ursache des Zugunglücks nach und berechnet mit seinen Freunden Emmenthaler (Nicolas Bro) und Lennart (Lars Brygman) in maximaler Geschwindigkeit und mit höchster Präzision Wahrscheinlichkeiten. Die drei sind Profis. Und siehe: Das vermeintliche Unglück scheint ein Attentat gewesen zu sein. Mit dieser Theorie konfrontieren sie den Witwer Markus (Mads Mikkelsen), der mit Tochter Mathilde in regloser Trauer ausharrt und sich auf die angebotene Deutung des Unglücks stürzt. Als Berufssoldat sieht Markus nun einen klaren Ausweg: Trauerbewältigung durch Rache von alttestamentarischer Wucht. Die drei vom Leben gebeutelten Nerds begleiten ihn auf dem Weg zum Hauptverdächtigen, nicht ahnend, welch eine Tötungsmaschine Markus ist. Einen Genickbruch später wissen sie Bescheid und hängen im Rachefeldzug drin. Die Gegenseite in Gestalt der Rockergang Riders of Justice ist gleichfalls nicht zimperlich. Es gilt Auge um Auge, Zahn um Zahn, es folgt jede Menge Geballer ohne polizeiliche Abmahnung. Inmitten der hilflos-gewaltbereiten Männerrunde versucht die Schülerin Mathilde, dem Irrsinn einen Sinn abzuringen. Sagenhaft komisch wird improvisiert, gekocht und therapiert.

Regisseur Anders Thomas Jensen (»Adams Äpfel«, »Men & Chicken«) stellt auch in seinem neuen Film eine sich verzweifelt an den Ausweglosigkeiten des Lebens abarbeitende und immer tiefer in die Sackgasse steuernde Männertruppe in den Mittelpunkt. Weniger Heldentum war selten. Diesmal spießt er noch ein paar Themen mehr auf die schwarzhumorige Plotgabel und verleiht seiner drastischen Erzählweise ein paar Umdrehungen mehr. Die subversiv-plakative Schlagkraft seiner älteren Filme geht in »Helden der Wahrscheinlichkeit« zugunsten facettenreicherer Figuren ein bisschen flöten. Pointiert, krude und aberwitzig ist die Geschichte allemal. Jensens größtes Pfund ist sein Stammtrio: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas und Nicolas Bro hat er ihre Rollen wie in jedem seiner Kultfilme auf den Leib geschrieben. Neuzugang Lars Brygman verstärkt die bekannte Mannschaft als hochambitionierter Pseudopsychologe und Scheunenliebhaber Lennart kongenial. 

Einmal mehr tarnt Anders Thomas Jensen große Fragen mit dem komödiantischen Deckmäntelchen: Wie gehen wir mit Schicksalsschlägen um? Wie groß sind unsere Spielräume und Handlungsoptionen, wie nutzen wir sie? Ist alles Zufall oder gibt es da draußen doch irgendwo einen übergeordneten Sinn? Anstelle wohlfeiler Wohlfühlsprüche serviert er ein märchenhaftes Finale mit zartbitteren ironischen Brechungen. Die Schwächsten machen ihre Schwäche zur Stärke. Zusammen ist man weniger allein. Besonders in dänischen Weihnachtspullovern.

Grit Dora

Contra

Anders Thomas Jensen ist zurück. Eine sehr gute Nachricht, denn sein mittlerweile zum Klassiker avancierter »Adams Äpfel« entstand immerhin 2006. Sein letzter Film, nach langer Pause von 2015 »Men & Chicken« sorgte auch eher für Fragen. Nun aber ist er zurück, an seiner Seite erneut die mittlerweile zu Weltstars gewordenen Mads Mikkelsen und Nikolaj Lie Kaas. Das Setting klingt vielversprechend, es geht um Wahrscheinlichkeiten, Schuld und Rache – große Themen in bester Besetzung. Vorweg: Es ist ein spannender und bestens unterhaltender Film entstanden. Aber leider kommt er nicht an die Qualitäten von »Adams Äpfel« heran.  

 

Das Erzähltempo ist anfänglich hoch, das Geschehen entwickelt sich zügig, der tragische Moment, der Unfall in der Metro lässt die absurde Abfolge von Unverständnis, Verdächtigungen und grausamer Rache über die Zuschauer ergehen. So weit so gut. Doch dann geschehen völlig sinnlose Morde, gefragt oder gesprochen wird wenig. Klar, wir reden hier von archaischen Mustern, alttestamentarischer Rache, mir fehlt aber jegliche ironische oder andere Distanz. Das ist mir zu pur und einfach gewaltverherrlichend. 

 

Die tollen Zahlenerläuterungen weichen psychologischen Erörterungen und Wohlfühldiskkursen. Denn schon bald entfaltet sich auf dem Gehöft der Familie von Markus so etwas wie die Selbstheilung einer kleinen Schicksalsgemeinschaft von Menschen, die sehr speziell sind, und die schlimme Sachen erlebt haben. Ein Moment des Wohlfühlens und der Geborgenheit, der Otto veranlasst zu sagen, dass er jetzt nicht mitkönne, da die Hausaufgaben zu machen sind. Doch Emmenthaler und Markus drängen und so entflieht das seltsame Quartett in die Nacht und zieht die Spirale der Gewalt noch mal kräftig an. Danach ist die Luft raus und die gewählte Spielentwicklung führt zum knalligen Finale, dass auch aus jedem höhenwertigem Hollywoodfilm sein könnte. Der Held rettet die Familie, gut hier dank seltsamer Freund (aber selbst die sind mittlerweile im Mainstream en vogue), gemeinsam feiern sie in stylischen Rentierpullovern dann Weihnachten – wunderbar, tolles Finale.

 

In der ersten Hälfte gibt es noch viel zu lachen, komische Momente, ernsthafte Gedanken und skurriler Nonsens lösen sich ab, die vier seltsamen Figuren versprühen ein Feuerwerk an Komik und darstellerische Brillanz. Aber irgendwann stell sich die Frage. Muss so viel sinnlose Gealtert wirklich sein. Können die Jungs ihre Zahlen nicht besser interpretieren und mal den Verstand einschalten?

 

Auch die Darsteller sind seltsam unausgewogen. Mads Mikkelsen agiert anfangs gekonnt souverän, mit der Zeit wirkt das recht eindimensional Spiel jedoch überholt und nicht dem Plot angemessen. Nikolaj Lie Kaas in seinem furchtbaren Kostüm dagegen erscheint komplexer und gewinnt seiner Figuren zahlreiche Schattierungen ab. Es ist eine Freude, dieser Figur zu folgen. Gleiches gilt für Nicolas Bro als Emmenthaler. 

 

Glasklar führt der Film vor, dass jegliche Gewissheiten verloren gegangen sind. Abfolgen sind irgendwie herleitbar, dank KI und Rechenkraft sowie, Probleme nicht lösbar und der Mensch nicht zu ändern. Diese schwarze Pointe hat Thomas Jensen leider vergessen, kunstvoller zu inszenieren. Schade – kein Klassiker, trotzdem ein schönes Stück Kino.

Mersaw

https://www.neuevisionen.de/de/filme/helden-der-wa...