2. März 2015
Es lebe die Atmosphäre!

‚PTA‘ ist zurück im Kino! Für die Redaktion des Kinokalender Dresden natürlich ein Pflichttermin – mit doch sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Pro:
Mit seinem neuen Film beweist Paul Thomas Anderson (»Magnolia«), dass Thomas Pynchons als unverfilmbar geltende Werke durchaus kongenial auf die Leinwand zu bringen sind. Vorausgesetzt man schert sich nicht um Expositionen und legt keinen Wert darauf, das Publikum an die Hand zu nehmen. Das war Andersons Sache nie. Er schubst die Zuschauer umstandslos ins Geschehen und lässt sie dort angenehm allein. In »Inherent Vice« findet zu Beginn noch etwas wie Story statt. Ein Detektiv bekommt von seiner Ex einen Auftrag angetragen und nimmt ihn an – aus sichtlich nachvollziehbaren Gründen würde er die begrabene Liebe gern reaktivieren. Heimgesucht von romantischen Erinnerungen an die verflossene Liebe stakst Joaquin Phoenixs Doc ungelenk, fallsüchtig und irgendwie stets erleuchtet (liegt es am Dope?) durch das sonnendurchflutete, nebelige oder nächtliche L.A., durchlässig für alle bösen Dinge der amerikanischen Realität der 1970er Jahre bis hin zum Vietnamkrieg. Er trifft auf unterschiedlichste Typen, auf Nazis, schwarze Bürgerrechtler, Hippies, korrupte Cops, die lieber Schauspieler wären, notgeile drogensüchtige Zahnärzte etc. pp.
Doc schaut sie sich alle genau an, die Dope-Wolke, in die er stets gehüllt ist, macht ihn, logisch, nicht wach, aber ziemlich hellsichtig. Zugedröhnt wie er ist und bleiben will, ist ihm doch jederzeit klar, dass vor der Gegenwart keiner gefeit ist. Der kleine Privatdetektiv macht seine Schwäche zur Stärke, erfüllt irgendwie seinen Auftrag, falls es denn jemals darum ging, und bringt einen verlorenen Vater (Owen Wilson) zu seiner Familie zurück. Der dünne Handlungsstrang, den Anderson aus Pynchons Text generiert, wird zunehmend rudimentärer, die Menschen bizarrer, die Verwicklungen absurder. Selten durchdringt ein erhellender Suchscheinwerfer den Nebel der Ereignisse. Anderson hat einen unwahrscheinlich dichten atmosphärischen Teppich gewebt, auf dem man sich entspannt ausstrecken und feinste Schauspielkunst genießen kann.
Josh Brolin ist als Lt. Det. Christian F. "Bigfoot" Bjornsen, der „Molto Panacako“-Bulle des Jahrhunderts und stiehlt dem manisch aufspielenden, mit liebevoll bestickten Hippiehemden und den hässlichsten Koteletten der Welt ausgestatteten Joaquin Phoenix beinahe die Show. Neben diesen beiden herrlich disparat agierenden Herren bestechen Katherine Waterston als Docs bezaubernd hintergründige Exfreundin, Joanna Newsom als sphärisch wispernde Sortilège und Reese Witherspoon als vom Ehrgeiz zerfressene Deputy D.A. Penny Kimball. Benicio Del Toro gibt den See-affinen Sauncho Smilax, Martin Short den abgefahrensten Dentisten der Kinogeschichte. Last but absolut not least gehört Owen Wilson in seiner Eigenschaft als Saxofonist und komplett undurchschaubarer mindestens Doppelagent Coy Harlingen erwähnt.
Mit seinen 148 Minuten ist »Inherent Vice« ein wirklich langer Film, der die heutzutage rar gewordene Erfahrung bietet, dass Zeit sich dehnen kann und darf. Und Paul Thomas Anderson tritt einmal mehr den Beweis an, dass subtile Gesellschaftskritik auch und gerade ohne stringente Erzählweisen stattfinden kann. Es lebe die Atmosphäre!
Grit Dora
Contra:
Irgendwann ist mal Schluss! Der Moment des Gehenlassens ist erreicht, die Motivation, dem Geschehen auf der Leinwand weiter zu folgen, dahin. Bei »Inherent Vice«, dem neuen Film von Paul Thomas Anderson (»Magnolia«), war dieser Augenblick nach etwa einer Stunde erreicht. Unglücklicherweise ging der vernebelte Drogen-Trip des Privatdetektivs Doc Sportello (Joaquin Phoenix) jedoch noch etwa 90 Minuten weiter und ließ so das persönliche Frustrationsgefühl des Rezensenten bis Filmende stetig weiter ansteigen.
Mein Problem: Bis zum im wahrsten Sinne der Wortes außergewöhnlichen Öl-Schrägstrich-Patriarchen-Drama »There Will Be Blood« aus dem Jahr 2007, das Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis seinen zweiten von bisher drei OSCARS bescherte, waren die Werke von Anderson, von seinen Fans charmant PTA genannt, nicht unbedingt my cup of tea. Zwei Filme später weiß ich wieder, warum: Nichts gegen Eigensinn und künstlerische Freiheit – aber wer so rigoros sein Ding durchzieht, sollte ab und an auch jene im Blick haben, die anständige neun Euro dafür blechen, unterhalten zu werden. Dass Unterhaltung und Anspruch sehr wohl zusammengehen, beweisen unter anderem »The Imitation Game«, »Gone Girl« oder »Her«, um einmal Beispiele der aktuellen und jüngeren Kinogeschichte zu nennen.
»Inherent Vice« hingegen schert sich – bewusst – nicht um Logik, eine nachvollziehbare Geschichte oder, wie der Bartwuchs des Protagonisten eindrucksvoll verdeutlicht, ansehnliche Gestalten. Diese sind zudem zwar mitunter herrlich überzeichnet (Josh Brolin als beinharter Cop), andererseits jedoch genauso undurchsichtig wie der Nebel, der Sportello und die Handlung permanent umgibt. Ein Umstand, den ich als passionierter Kinogänger akzeptieren und als „künstlerische Aussage“ nachvollziehen kann – genießen allerdings nicht. PTA suhlt sich förmlich in der Coolness seiner Figuren, lässt die 70er mit stimmungsvollem Soundtrack aufleben und streut hier und da sogar ein paar zeitgeschichtliche Hinweise ein, die die politische und gesellschaftliche Stimmung im Land der Hippies während des Vietnamkrieges greifbar machen sollen. Klar sieht das fetzig aus, aber brauche ich das 150 Minuten lang? Fast wünscht man sich da einen Überraschungsauftritt von Marky Mark Wahlberg alias Dirk Diggler aus »Boogie Nights«, der zur Abwechslung mal kurz seine immense Männlichkeit vor der Linse hin- und herwedelt.
Aber denkste! Stattdessen gibt es mit zunehmender Laufzeit noch mehr Namen, noch mehr Figuren, noch mehr Joints, bis auch der letzte Zuschauer im Saal kapituliert und begreift, dass es nicht mehr darum geht, wer etwas tut, sondern nur noch darum, welcher Altstar (Hallo, Martin Short! Hallo, Eric Roberts!) wohl als nächstes ins Bild stolpert, um sogleich weitere Rätsel zu fabulieren. Die kommentiert unser Held gewöhnlich mit einem schlichten „Hmm“, inhaliert einmal tief und macht sich fix auf zur nächsten l-a-n-g-w-e-i-l-i-g-e-n Plauderei. Auf Dauer eine ziemlich öde Endlosschleife. Exemplaren wie dem Dude aus „The Big Lebowski“ war es zumindest vergönnt, zwischen dem Kiffen ein paar interessante Zeitgenossen zu treffen, White Russians zu schlürfen oder zu Bowlen. Doc Sportello muss sich damit begnügen, von seinem Strippenzieher PTA auf einen der spannungs- und handlungslosesten Trips seit Erfindung des Pot geschickt worden zu sein.
Bitte? Ach so, »Inherent Vice« ist lediglich eine Film-Noir-Parodie? Eine schräge Komödie im Kiffer-Stil, die nichts ernst meint? Pass auf, das kann ich auch: Diese Contra-Rezension ist reine Ironie, sinnentleert und dient nur dazu, dem Leser fünf Minuten einer Lebenszeit zu stehlen. Unlustig, gell?
Csaba Lázár
Pro:
Mit seinem neuen Film beweist Paul Thomas Anderson (»Magnolia«), dass Thomas Pynchons als unverfilmbar geltende Werke durchaus kongenial auf die Leinwand zu bringen sind. Vorausgesetzt man schert sich nicht um Expositionen und legt keinen Wert darauf, das Publikum an die Hand zu nehmen. Das war Andersons Sache nie. Er schubst die Zuschauer umstandslos ins Geschehen und lässt sie dort angenehm allein. In »Inherent Vice« findet zu Beginn noch etwas wie Story statt. Ein Detektiv bekommt von seiner Ex einen Auftrag angetragen und nimmt ihn an – aus sichtlich nachvollziehbaren Gründen würde er die begrabene Liebe gern reaktivieren. Heimgesucht von romantischen Erinnerungen an die verflossene Liebe stakst Joaquin Phoenixs Doc ungelenk, fallsüchtig und irgendwie stets erleuchtet (liegt es am Dope?) durch das sonnendurchflutete, nebelige oder nächtliche L.A., durchlässig für alle bösen Dinge der amerikanischen Realität der 1970er Jahre bis hin zum Vietnamkrieg. Er trifft auf unterschiedlichste Typen, auf Nazis, schwarze Bürgerrechtler, Hippies, korrupte Cops, die lieber Schauspieler wären, notgeile drogensüchtige Zahnärzte etc. pp.
Doc schaut sie sich alle genau an, die Dope-Wolke, in die er stets gehüllt ist, macht ihn, logisch, nicht wach, aber ziemlich hellsichtig. Zugedröhnt wie er ist und bleiben will, ist ihm doch jederzeit klar, dass vor der Gegenwart keiner gefeit ist. Der kleine Privatdetektiv macht seine Schwäche zur Stärke, erfüllt irgendwie seinen Auftrag, falls es denn jemals darum ging, und bringt einen verlorenen Vater (Owen Wilson) zu seiner Familie zurück. Der dünne Handlungsstrang, den Anderson aus Pynchons Text generiert, wird zunehmend rudimentärer, die Menschen bizarrer, die Verwicklungen absurder. Selten durchdringt ein erhellender Suchscheinwerfer den Nebel der Ereignisse. Anderson hat einen unwahrscheinlich dichten atmosphärischen Teppich gewebt, auf dem man sich entspannt ausstrecken und feinste Schauspielkunst genießen kann.
Josh Brolin ist als Lt. Det. Christian F. "Bigfoot" Bjornsen, der „Molto Panacako“-Bulle des Jahrhunderts und stiehlt dem manisch aufspielenden, mit liebevoll bestickten Hippiehemden und den hässlichsten Koteletten der Welt ausgestatteten Joaquin Phoenix beinahe die Show. Neben diesen beiden herrlich disparat agierenden Herren bestechen Katherine Waterston als Docs bezaubernd hintergründige Exfreundin, Joanna Newsom als sphärisch wispernde Sortilège und Reese Witherspoon als vom Ehrgeiz zerfressene Deputy D.A. Penny Kimball. Benicio Del Toro gibt den See-affinen Sauncho Smilax, Martin Short den abgefahrensten Dentisten der Kinogeschichte. Last but absolut not least gehört Owen Wilson in seiner Eigenschaft als Saxofonist und komplett undurchschaubarer mindestens Doppelagent Coy Harlingen erwähnt.
Mit seinen 148 Minuten ist »Inherent Vice« ein wirklich langer Film, der die heutzutage rar gewordene Erfahrung bietet, dass Zeit sich dehnen kann und darf. Und Paul Thomas Anderson tritt einmal mehr den Beweis an, dass subtile Gesellschaftskritik auch und gerade ohne stringente Erzählweisen stattfinden kann. Es lebe die Atmosphäre!
Grit Dora
Contra:
Irgendwann ist mal Schluss! Der Moment des Gehenlassens ist erreicht, die Motivation, dem Geschehen auf der Leinwand weiter zu folgen, dahin. Bei »Inherent Vice«, dem neuen Film von Paul Thomas Anderson (»Magnolia«), war dieser Augenblick nach etwa einer Stunde erreicht. Unglücklicherweise ging der vernebelte Drogen-Trip des Privatdetektivs Doc Sportello (Joaquin Phoenix) jedoch noch etwa 90 Minuten weiter und ließ so das persönliche Frustrationsgefühl des Rezensenten bis Filmende stetig weiter ansteigen.
Mein Problem: Bis zum im wahrsten Sinne der Wortes außergewöhnlichen Öl-Schrägstrich-Patriarchen-Drama »There Will Be Blood« aus dem Jahr 2007, das Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis seinen zweiten von bisher drei OSCARS bescherte, waren die Werke von Anderson, von seinen Fans charmant PTA genannt, nicht unbedingt my cup of tea. Zwei Filme später weiß ich wieder, warum: Nichts gegen Eigensinn und künstlerische Freiheit – aber wer so rigoros sein Ding durchzieht, sollte ab und an auch jene im Blick haben, die anständige neun Euro dafür blechen, unterhalten zu werden. Dass Unterhaltung und Anspruch sehr wohl zusammengehen, beweisen unter anderem »The Imitation Game«, »Gone Girl« oder »Her«, um einmal Beispiele der aktuellen und jüngeren Kinogeschichte zu nennen.
»Inherent Vice« hingegen schert sich – bewusst – nicht um Logik, eine nachvollziehbare Geschichte oder, wie der Bartwuchs des Protagonisten eindrucksvoll verdeutlicht, ansehnliche Gestalten. Diese sind zudem zwar mitunter herrlich überzeichnet (Josh Brolin als beinharter Cop), andererseits jedoch genauso undurchsichtig wie der Nebel, der Sportello und die Handlung permanent umgibt. Ein Umstand, den ich als passionierter Kinogänger akzeptieren und als „künstlerische Aussage“ nachvollziehen kann – genießen allerdings nicht. PTA suhlt sich förmlich in der Coolness seiner Figuren, lässt die 70er mit stimmungsvollem Soundtrack aufleben und streut hier und da sogar ein paar zeitgeschichtliche Hinweise ein, die die politische und gesellschaftliche Stimmung im Land der Hippies während des Vietnamkrieges greifbar machen sollen. Klar sieht das fetzig aus, aber brauche ich das 150 Minuten lang? Fast wünscht man sich da einen Überraschungsauftritt von Marky Mark Wahlberg alias Dirk Diggler aus »Boogie Nights«, der zur Abwechslung mal kurz seine immense Männlichkeit vor der Linse hin- und herwedelt.
Aber denkste! Stattdessen gibt es mit zunehmender Laufzeit noch mehr Namen, noch mehr Figuren, noch mehr Joints, bis auch der letzte Zuschauer im Saal kapituliert und begreift, dass es nicht mehr darum geht, wer etwas tut, sondern nur noch darum, welcher Altstar (Hallo, Martin Short! Hallo, Eric Roberts!) wohl als nächstes ins Bild stolpert, um sogleich weitere Rätsel zu fabulieren. Die kommentiert unser Held gewöhnlich mit einem schlichten „Hmm“, inhaliert einmal tief und macht sich fix auf zur nächsten l-a-n-g-w-e-i-l-i-g-e-n Plauderei. Auf Dauer eine ziemlich öde Endlosschleife. Exemplaren wie dem Dude aus „The Big Lebowski“ war es zumindest vergönnt, zwischen dem Kiffen ein paar interessante Zeitgenossen zu treffen, White Russians zu schlürfen oder zu Bowlen. Doc Sportello muss sich damit begnügen, von seinem Strippenzieher PTA auf einen der spannungs- und handlungslosesten Trips seit Erfindung des Pot geschickt worden zu sein.
Bitte? Ach so, »Inherent Vice« ist lediglich eine Film-Noir-Parodie? Eine schräge Komödie im Kiffer-Stil, die nichts ernst meint? Pass auf, das kann ich auch: Diese Contra-Rezension ist reine Ironie, sinnentleert und dient nur dazu, dem Leser fünf Minuten einer Lebenszeit zu stehlen. Unlustig, gell?
Csaba Lázár
http://www.warnerbros.de/kino/inherent_vice__natue...
