30. Januar 2015
Pro und Contra »Wild Tales«

„Jeder dreht mal durch!“ - dies gilt nach dem Kinobesuch auch für die Redaktion des Kinokalender Dresden – zumindest einen Teil davon.
Pro
„Wie du mir, so ich dir.“ Das hat nicht irgendein brutaler Dösbartel gesagt, sondern Ovid. Sir Francis Bacon legt noch eins drauf: „Vergeltung ist eine Art wilder Gerechtigkeit.“ Damián Szifrón steht mit seinem Spielfilm-Erstling stabil auf den Schultern römischer Dichter und englischer Philosophen. Des argentinischen Regisseurs wilde Geschichten handeln ausschließlich von Rache und das extrem abwechslungsreich, witzig und erfrischend brutal. Alle Mittel sind recht, wenn es darum geht, erlittenem Unrecht aktiv zu begegnen. Ob Flugzeugabsturz, Rattengift oder Sprengstoff, - es gilt, anderen effizient vor den Koffer zu kacken. Szifrón nimmt das wörtlich. Seine Figuren setzen die gewählten Methoden teils klassisch, teils unkonventionell, aber immer höchst wirksam ein. Sie rächen sich nicht mit kleinen, subtilen Gemeinheiten, sondern lassen eine schier unendlich aufgestaute Wut ab. Das ist gesund, sagt die Psychologie. Im Alltag genügt meist der Traum von konsequenter Rache, um das seelische Gleichgewicht wiederherzustellen. Im Kino hingegen darf die Gerechtigkeit ganz handfest vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Und so zeigt jede der wilden Geschichten nicht nur die tiefe Befriedigung, die eine maßlose gelungene Racheaktion auslöst, sondern auch mit ganz dickem Stinkefinger auf den Zustand der Gesellschaft. Mangelnde Impulskontrolle zerstört bei Damián Szifrón nicht nur das kränkende Gegenüber, sonder ist immer auch Rache am kranken System. Er vermittelt anschaulich, dass man im Argentinien der Gegenwart nicht begraben sein möchte. Das Recht der Reichen, steht noch vor dem Recht der Starken, von dem der anderen ganz zu schweigen. Das hat man schon immer gewusst, aber nie so bildgewaltig und krass vorgeführt bekommen.
In der zweiten Episode etwa, hat eine vorbestrafte Köchin Wut auf alle Welt im Ranzen und nutzt die erste sich bietende Gelegenheit, auf ziemlich atavistische Weise gerecht zu strafen. Sie will dringend wieder in den Knast. Dort winken nicht nur Vollverpflegung und kostenlose Unterkunft. Das Gefängnis erscheint der Frau vergleichsweise idyllisch, gibt es doch offenbar keine perfidere Gegend als die freie Wildbahn der modernen Zivilisation.
Seine wilde Radikalkomödie hat Szifrón in herrlich billiger B-Movie-Optik aufgenommen und auch eine Handvoll Splatter-Elemente hinein gerührt. Ein fröhlicher Hauch von »Texas Chainsaw Massacre« liegt in der Luft und Ed Wood grüßt aus der Ferne. In Sachen Konsequenz steht der Argentinier Regisseuren wie Tarantino oder dem frühen Fassbinder in nichts nach. Im furiosen Finale definiert er den Begriff „Traumhochzeit“ völlig neu – und spiegelt in der Racheorgie der betrogenen Braut auch den Horror absurder Hochzeitsrituale.
Konfuzius sagt: „Das Wasser haftet nicht an den Bergen, die Rache nicht an einem großen Herzen.“ Kann schon sein, aber im Umkehrschluss überleben kleine Herzen offensichtlich gesünder - wenn sie denn überleben.
Grit Dora
Semi-Contra:
»Wild Tales« handelt von Menschen, die ausgehend von alltäglichen Situationen ihr gutes Benehmen beiseite schieben und dem Wutimpuls nachgeben. Sechs inhaltlich voneinander unabhängige Episoden, die den Ideenreichtum aufzeigen, mit dem die Spezies Mensch empfundenes Unrecht zu bekämpfen versucht. Interessant hierbei, dass sämtliche Lösungsansätze Leid, Gewalt oder Tod zur Folge haben, wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen.
Was Regisseur/Autor Damián Szifron zugute gehalten werden kann, ist sein Ansinnen, jeder seiner Kurzgeschichten einen glaubhaften Ursprung zu geben. Ob Mobbing in Schule und Beruf, idiotische Verkehrsteilnehmer oder untreue Ehepartner: Am Anfang ist stets nicht zu erahnen, in welche Richtung er seine Rachephantasien lenken wird. So schenkt er seinem Publikum zunächst immer einen Moment des Schmunzelns und die „Ahh, genau, ist mir auch schon passiert!“-Erkenntnis, bevor er das präsentiert, was sich viele insgeheim schon einmal gewünscht haben zu tun, wenn beispielsweise das eigene Auto wegen Falschparkens abgeschleppt wird.
Ziviler Ungehorsam und Anarchie schön und gut, Moral wird in »Wild Tales« allerdings völlig ignoriert, Kollateralschäden werden bereitwillig in Kauf genommen, die „Täter“ für ihr Handeln gar bejubelt (Episode „Bombita“). Für verklemmte Gemüter wie den offenbar hier Schreibenden starker Tobak.
Oder ist dies doch nur die Oberfläche des eigentlichen Anliegens von Szifron? Wer will, kann in »Wild Tales« nämlich eine Art Gesellschafts-, ach was sag‘ ich, Zivilisationskritik hineininterpretieren: Aggression als einzig legitimes Ventil in einer Umgebung, die von Korruption (Episode „Die Rechnung“), behördlicher Willkür (nochmal „Bombita“) sowie fehlenden moralischen Werten („Bis dass der Tod uns scheidet“) und Hilfsbereitschaft („Pasternak“, „Die Ratten“) gezeichnet ist. Die Folgen sind verheerend, allerdings nicht immer für die Schuldigen. Die Frage, die dabei beim Verfechter dieser Filminterpretation aufploppt: Stellt sich beim potenziellen Nachahmungstäter im Publikum ein Lerneffekt ein? Oder wird diese Person vielmehr dazu angestachelt, ebenso zu handeln wie die Protagonisten auf der Leinwand?
Ein schmaler Grat, den Szifron und sein prominenter Produzent Pedro Almodóvar da beschreiten, selbst wenn das Ergebnis zugegebenermaßen sehr gut unterhält. Wie bei anderen von Sarkasmus und tiefschwarzem Humor durchtränkten Werken läuft »Wild Tales« aber eben leider Gefahr, missverstanden und aus zweifelhaften Gründen abgefeiert zu werden. Ein Phänomen, mit dem auch schon Scorseses »The Wolf of Wall Street« zu kämpfen hatte, der einem dreistündigen Freizeitpark-Ritt durch die glamouröse(?) Welt der Exzesse gleichkam.
Immerhin: Schön zu sehen, dass auf der anderen Seite der Erdkugel die Herausforderungen im zwischenmenschlichen Beisammensein den unseren ähneln. Am Ende sind wir halt doch alle gleich. Einen passenderen Monat für den Kinostart in Deutschland hätte der Verleih nicht finden können.
Csaba Lázár
Pro
„Wie du mir, so ich dir.“ Das hat nicht irgendein brutaler Dösbartel gesagt, sondern Ovid. Sir Francis Bacon legt noch eins drauf: „Vergeltung ist eine Art wilder Gerechtigkeit.“ Damián Szifrón steht mit seinem Spielfilm-Erstling stabil auf den Schultern römischer Dichter und englischer Philosophen. Des argentinischen Regisseurs wilde Geschichten handeln ausschließlich von Rache und das extrem abwechslungsreich, witzig und erfrischend brutal. Alle Mittel sind recht, wenn es darum geht, erlittenem Unrecht aktiv zu begegnen. Ob Flugzeugabsturz, Rattengift oder Sprengstoff, - es gilt, anderen effizient vor den Koffer zu kacken. Szifrón nimmt das wörtlich. Seine Figuren setzen die gewählten Methoden teils klassisch, teils unkonventionell, aber immer höchst wirksam ein. Sie rächen sich nicht mit kleinen, subtilen Gemeinheiten, sondern lassen eine schier unendlich aufgestaute Wut ab. Das ist gesund, sagt die Psychologie. Im Alltag genügt meist der Traum von konsequenter Rache, um das seelische Gleichgewicht wiederherzustellen. Im Kino hingegen darf die Gerechtigkeit ganz handfest vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Und so zeigt jede der wilden Geschichten nicht nur die tiefe Befriedigung, die eine maßlose gelungene Racheaktion auslöst, sondern auch mit ganz dickem Stinkefinger auf den Zustand der Gesellschaft. Mangelnde Impulskontrolle zerstört bei Damián Szifrón nicht nur das kränkende Gegenüber, sonder ist immer auch Rache am kranken System. Er vermittelt anschaulich, dass man im Argentinien der Gegenwart nicht begraben sein möchte. Das Recht der Reichen, steht noch vor dem Recht der Starken, von dem der anderen ganz zu schweigen. Das hat man schon immer gewusst, aber nie so bildgewaltig und krass vorgeführt bekommen.
In der zweiten Episode etwa, hat eine vorbestrafte Köchin Wut auf alle Welt im Ranzen und nutzt die erste sich bietende Gelegenheit, auf ziemlich atavistische Weise gerecht zu strafen. Sie will dringend wieder in den Knast. Dort winken nicht nur Vollverpflegung und kostenlose Unterkunft. Das Gefängnis erscheint der Frau vergleichsweise idyllisch, gibt es doch offenbar keine perfidere Gegend als die freie Wildbahn der modernen Zivilisation.
Seine wilde Radikalkomödie hat Szifrón in herrlich billiger B-Movie-Optik aufgenommen und auch eine Handvoll Splatter-Elemente hinein gerührt. Ein fröhlicher Hauch von »Texas Chainsaw Massacre« liegt in der Luft und Ed Wood grüßt aus der Ferne. In Sachen Konsequenz steht der Argentinier Regisseuren wie Tarantino oder dem frühen Fassbinder in nichts nach. Im furiosen Finale definiert er den Begriff „Traumhochzeit“ völlig neu – und spiegelt in der Racheorgie der betrogenen Braut auch den Horror absurder Hochzeitsrituale.
Konfuzius sagt: „Das Wasser haftet nicht an den Bergen, die Rache nicht an einem großen Herzen.“ Kann schon sein, aber im Umkehrschluss überleben kleine Herzen offensichtlich gesünder - wenn sie denn überleben.
Grit Dora
Semi-Contra:
»Wild Tales« handelt von Menschen, die ausgehend von alltäglichen Situationen ihr gutes Benehmen beiseite schieben und dem Wutimpuls nachgeben. Sechs inhaltlich voneinander unabhängige Episoden, die den Ideenreichtum aufzeigen, mit dem die Spezies Mensch empfundenes Unrecht zu bekämpfen versucht. Interessant hierbei, dass sämtliche Lösungsansätze Leid, Gewalt oder Tod zur Folge haben, wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen.
Was Regisseur/Autor Damián Szifron zugute gehalten werden kann, ist sein Ansinnen, jeder seiner Kurzgeschichten einen glaubhaften Ursprung zu geben. Ob Mobbing in Schule und Beruf, idiotische Verkehrsteilnehmer oder untreue Ehepartner: Am Anfang ist stets nicht zu erahnen, in welche Richtung er seine Rachephantasien lenken wird. So schenkt er seinem Publikum zunächst immer einen Moment des Schmunzelns und die „Ahh, genau, ist mir auch schon passiert!“-Erkenntnis, bevor er das präsentiert, was sich viele insgeheim schon einmal gewünscht haben zu tun, wenn beispielsweise das eigene Auto wegen Falschparkens abgeschleppt wird.
Ziviler Ungehorsam und Anarchie schön und gut, Moral wird in »Wild Tales« allerdings völlig ignoriert, Kollateralschäden werden bereitwillig in Kauf genommen, die „Täter“ für ihr Handeln gar bejubelt (Episode „Bombita“). Für verklemmte Gemüter wie den offenbar hier Schreibenden starker Tobak.
Oder ist dies doch nur die Oberfläche des eigentlichen Anliegens von Szifron? Wer will, kann in »Wild Tales« nämlich eine Art Gesellschafts-, ach was sag‘ ich, Zivilisationskritik hineininterpretieren: Aggression als einzig legitimes Ventil in einer Umgebung, die von Korruption (Episode „Die Rechnung“), behördlicher Willkür (nochmal „Bombita“) sowie fehlenden moralischen Werten („Bis dass der Tod uns scheidet“) und Hilfsbereitschaft („Pasternak“, „Die Ratten“) gezeichnet ist. Die Folgen sind verheerend, allerdings nicht immer für die Schuldigen. Die Frage, die dabei beim Verfechter dieser Filminterpretation aufploppt: Stellt sich beim potenziellen Nachahmungstäter im Publikum ein Lerneffekt ein? Oder wird diese Person vielmehr dazu angestachelt, ebenso zu handeln wie die Protagonisten auf der Leinwand?
Ein schmaler Grat, den Szifron und sein prominenter Produzent Pedro Almodóvar da beschreiten, selbst wenn das Ergebnis zugegebenermaßen sehr gut unterhält. Wie bei anderen von Sarkasmus und tiefschwarzem Humor durchtränkten Werken läuft »Wild Tales« aber eben leider Gefahr, missverstanden und aus zweifelhaften Gründen abgefeiert zu werden. Ein Phänomen, mit dem auch schon Scorseses »The Wolf of Wall Street« zu kämpfen hatte, der einem dreistündigen Freizeitpark-Ritt durch die glamouröse(?) Welt der Exzesse gleichkam.
Immerhin: Schön zu sehen, dass auf der anderen Seite der Erdkugel die Herausforderungen im zwischenmenschlichen Beisammensein den unseren ähneln. Am Ende sind wir halt doch alle gleich. Einen passenderen Monat für den Kinostart in Deutschland hätte der Verleih nicht finden können.
Csaba Lázár
