Long Walk Home

Drama, Australien/Großbritannien 2002, 94 min

Bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts berechtigte ein Gesetz den australischen Staat, Aborigine- und vor allem Mischlingskinder in Erziehungsheime zu deportieren, um sie dort zu Weißen 2. Klasse zu erziehen. Den Kindern war der Kontakt zur eigenen Familie, Kultur, und Sprache strengstens untersagt. Zwischen 1910 und 1976 wurden so ca 100.000 Kinder verschleppt, jede Aborigine-Familie war betroffen. Vor diesem Hintergrund erzählt Long Walk Home seine wahre Geschichte.
1931 werden die Schwestern Molly, Gracie und Daisy Opfer dieser Rassenpolitik. Sie werden ihrer Mutter entrissen und 2000 km entfernt im kirchlich geführten River Moore House eingeliefert. Dort herrscht ein strenges Regime, das den Widerstand der meisten Kinder schnell bricht. Aber Molly ist zäh und geschickt. Als die Gelegenheit günstig scheint, ergreift sie mit ihren Schwestern die Flucht…
Im Zentrum von »Long Walk Home« steht diese Flucht, der hindernisreiche und langwierige Wettlauf mit den Verfolgern durch die australische Steppe. Wong Kar-Wais Hauskameramann Christopher Doyle hat die spezifische Landschaft des Films in eindringlichen Bildern festgehalten. Endlose Weite, wohin man sieht. Heiße Luft staut sich über dem ausgedörrten Boden. Im Grau-Braun der Steine und Büsche gehen die Mädchen mit ihren staubigen Hauskitteln und dunklen Gesichtern nahezu unter. Man merkt, es ist ihr Land, sie gehören dort hin und kennen sich aus.
Ganz anders die kolonialen Besatzer, die sich in der freien Wildbahn unnatürlich fahl ausnehmen. In ihrer Darstellung, die manchmal fast, aber nur fast, ans Karikaturhafte grenzt, siedelt Philip Noyce seine Kritik an der imperialistischen Regierung an. Besonders gelungen ist Kenneth Branaghs Performance als A.O. Neville, Chief Protector of Aborigines. Von seinem Büro aus organisiert der Bürokrat Neville die Verfolgung der Mädchen, als ob es sich um einen Kreuzzug der Ordnung gegen das Chaos handeln würde. Ohne je zum Klischee zu verkommen, verkörpert Branagh perfekt den Typ des paranoiden Europäers.
Regisseur Philip Noyce hat am historischen Stoff vor allem das universelle menschliche Drama gereizt - die Sehnsucht dreier Kinder nach ihrer Mutter. Dankenswerter Weise hat er darauf verzichtet, große Gefühle auch groß zu inszenieren. Stattdessen setzen er und sein Filmmusikkomponist Peter Gabriel (!) auf Zurückhaltung, auf ruhige Höhepunkte, präzise Charakterzeichnung, gute Schauspieler, viel Landschaft und wenige wohlplatzierte Stilmittel. Mit Erfolg. »Long Walk Home« ist ein mitreißender, vielschichtiger Film geworden, der Drama, Thriller und Kunstfilm miteinander vereint und es an Spannung mit jedem Action-Reißer aufnehmen kann.
Hendrike Bake