Geh und lebe

Drama, Frankreich/Israel/Brasilien/Italien 2005, 149 min

Ein im Tod geborenes Kind ist ein Trauma. Dieses Kind aber überlebt, darf seinen Namen nicht kennen, nur eine Erinnerung. Schlomo wird es fortan heißen. Vorerst und dann auch weiterhin, bis er im Finale seine Mutter wiederfindet. Der Film will dies und kann so gar nicht anders. Er erzählt nur hart eine der vielen Geschichten, von denen kaum einer etwas weiß. Ein dicker Stoff also, eine Bürgerkriegsgeschichte. Hartes Kino. Wir sehen: Eine Mutter, ihr totes Kind verleugnend, dafür ein anderes in eine fremde Welt werfend, damit dieses wenigstens überleben kann. In einem fremden Land, einer fremden Kultur.
Hier fängt diese feine Filmgeschichte an. Die eines namenlosen Kindes. Seine Biographie hat einen genauso fatalen wie realen Hintergrund. Der Mossad bat die CIA um etwas mehr als Schützenhilfe. Etwas, was nur im entferntesten an einen Genozid erinnert, wollten, konnten sich weder die Israelis noch die Amerikaner leisten. Kurz gesagt, schwer getan. In einer beispiellosen Aktion wurden 12000 äthiopische Juden auf einen langen Weg geschickt. 3000 von ihnen verreckten hilflos auf dem Fußmarsch von Äthiopien aus bis in die Wüsten des Sudan hinein. In einer zweiten Aktion werden dann Jahre später noch einmal 51000 schwarze Juden aus dem Osten Afrikas ausgeflogen.
Salomon, um dessen Schiksal es hier geht, auch Schlomo genannt, lernt lügen. Er lernt eine gewaltige Lüge zu leben, die nur den einfachen Grund hat, seinem Überleben zu dienen.
Dieser Stoff war quasi ein gefundenes Fressen für den Rumänen Radu Mihaileanu, der selbst eine ähnliche, freilich aber selbstbestimmte Geschichte gelebt hat und schon mit seinem letzten Film „Zug des Lebens“ im Jahre 1989 ein Furiosum über den Massenmord auf die international bedeutende Leinwand gebracht hat. Da spannt sich ein Bogen bis zum wundervollen „Jakob, der Lügner“, oder auch zu den leisen und feinen Gedichten und Geschichten von Johannes Bobrowski.
Kein ‘Selbstläufer’ also und genau deswegen ein Riese.
Radu Mihaileanu zeichnet ein irres Leben nach. Er hat lange nach seinen Darstellern gesucht. Für seinen Protagonisten als Kind setzt er Moshe Agazis, für den Jugendlichen einen Jungen namens Schlomo Mosche Abebe und für den jungen Erwachsenen schließlich Shirak M. Sabath ein. Das sitzt, da wird schon eine ganz klare Linie gezeichnet. So wie der Mann seine Schauspieler führt, wird deutlich, wie sehr er mit dieser nicht seiner eigenen Geschichte verbunden ist und wie deutlich er zu zeigen gewillt ist, was an der Welt nicht stimmt.
Hier ist mehr als ein Kompliment angebracht. Der Regisseur lässt seine Figuren eine stinknormale Gratwanderung im allergewöhnlichsten Rassismus bestehen. Sprich: Du gehörst nicht zu uns! Er lässt all seine Figuren eine Lebenslüge aufbauen und gegen alle Widerstände behaupten. Er lässt seine Figuren scheitern, rebellieren und am Ende auch gewinnen. Man verzeihe ihm dies, die Welt, die läuft nicht so.
Wir haben die Nachrichten. Erst kürzlich wurde hier wieder ein Äthiopier ins Koma geschlagen. Wäre er schon tot, hätten sich wahrscheinlich schon wieder Lichterketten gebildet. Ein kollektives Gewissen, ich nenn es ruhig so, ein weiteres Mal ad acta gelegt.
Mein Kompliment will so nicht gelingen, also weiter. Der Regisseur lässt seinen Protagonisten einen philosophischen Diskurs führen. Darin legt er nahe, dass der Mensch von Gott nicht schwarz oder weiß erschaffen werden konnte. Er lässt behaupten, dass es eine Alternative gegeben haben müsse. Behauptet, dass der erste Mensch rot gewesen sein müsse. Das kommt dann hochemotional, populär und so auch stark. Mir hätte die dumme Frage, ob Adam einen Nabel hatte, besser gefallen. Immerhin, Mihaileanu wirft ein altes Ding neu auf. Wie eine Münze, eine Wette. Fällt sie auf den Kopf bist du entschieden, andersherum auch. Spannend wird es ja erst, wenn sie auf ihrem Rand stehen bleibt. Dann bleibst nur du selbst. Der Regisseur aber streckt da einen dicken Zeigefinger aus, zeigt deutlich in seine Richtung. Er versucht ja nichts anderes als die Klassiker zu adaptieren. Joyce und sein griechisches Vorbild kommen hier ins Spiel.
Dies dick aufgetragene Ding gefällt mir.
thomas haufe