Dias de Santiago

Drama, Peru 2003, 83 min

Santiago hetzt durch die Straßen von Lima, ziellos und von einer inneren Unruhe beherrscht. Seine Gedanken jagen sich, die Blicke nehmen jede Bewegung um ihn herum wahr, analysieren jede Sekunde die Umgebung neu. ‚Du musst wachsam sein, der Feind kann überall lauern', sagt sein Unterbewusstsein. Das hat ihn in den letzten Jahren am Leben erhalten. Sechs Jahre war Santiago in der Armee und während er sich, immer auf einen Hinterhalt gefasst, durch den Dschungel Perus kämpfte, wünschte er sich regelmäßig zurück nach Hause. Doch hier findet er sich jetzt nicht mehr zurecht. Der Militärdienst hat in ihm einen Sinn für Recht und Unrecht geschaffen, der sich nicht auf sein neues altes Leben anwenden lässt. Hilflos sieht er sich dem Chaos einer Gesellschaft ausgesetzt, die jeglichen Sinn für Ordnung und Respekt verloren zu haben scheint.
Den Machtstrukturen in seiner zerrütteten Familie, in der der Vater das Sagen hat, kann sich Santiago nicht unterordnen. Die Frauen, denen Regisseur Méndez eine ganz besondere Rolle zuordnet, haben sein Weltbild überholt. Denn abgesehen von der eigenen unterwürfigen Mutter, sieht er sich mit einer Reihe junger, selbstbewusster, sexuell aggressiver und (auch finanziell) unabhängiger Frauen konfrontiert. Zu ihnen findet er keinen Zugang, weil sie ihm keinerlei Angriffsfläche für seinen Beschützerkomplex bieten. Er muss erfahren, dass er hier nicht mehr der Held ist, der für sein Vaterland gekämpft hat und dem man mit Respekt begegnen muss.
Während er mühsam versucht, sein Geld auf anständige Weise zu verdienen, wird Santiago zunehmend paranoider und muss die Stimmen und Bilder in seinem Kopf im Zaum halten. Die Handkamera bleibt wie ein unsichtbarer Verfolger ganz nah an ihm dran und verkörpert gewissermaßen den Feind, den Santiago ständig im Nacken spürt.
Dabei ist bemerkenswert, dass Dias de Santiago ohne jegliche Rückblenden in die Zeit von Santiagos Armeedienst auskommt. So deutliche Bilder wie in „Brothers“ bekommt der Zuschauer nicht zu sehen. Doch wie im „zivilisierten Europa“ kümmert es keinen, will keiner wirklich wissen, was Krieg aus Menschen macht. Der Regisseur zeigt uns dies in zugleich ästhetischen und traurigen Bildern. So, wenn er Santiago beim Schlafen, oder eher „die Nacht durchwachen“ zeigt, im Tarnanzug und das Gesicht vollkommen vermummt.
Hauptdarsteller Pietro Sibille spielt die komplexe Rolle des Santiago mit einer großen Überzeugungskraft. Der verzweifelte Existenzkampf und der erbitterte Versuch, unter widrigen Umständen ein anständiges Leben zu führen, spiegeln sich in Gestik und Mimik ebenso wider wie die wieder und wieder aufkommenden Automatismen und Verhaltensmuster eines Soldaten, der nur durch eisernes Einhalten eingetrichterter Regeln überleben konnte.
»Dias de Santiago« liegt keine lineare Geschichte zugrunde, vielmehr zeichnet der junge Peruaner Josué Méndez in seinem ersten Spielfilm das verstörende Bild eines Mannes, der auf der verzweifelten Suche nach etwas Stabilität in seinem neuen Leben permanent kurz vor dem Explodieren steht. Dieser Zustand ist zugleich Psychogramm eines Einzelnen und Reflexion über die peruanische Gesellschaft, die mit sich selbst im Ausnahmezustand lebt. Die peruanische Version von Scorseses »Taxi Driver« kandidiert für den „Auslandsoscar“.