Vater und Sohn

Drama, Deutschland/Niederlande/Frankreich/Russland 2003, 84 min

Sokurovs letztes Werk, die Zeitreise durch die Eremitage »Russian Arc«, war ein filmisches Großexperiment: ein 90 minütiger Spielfilm in einer einzigen Plansequenz. Für »Vater und Sohn« ist Sokurov auf den ersten Blick zu konventionelleren Erzähltechniken zurückgekehrt. Trotzdem ist der Film um nichts weniger radikal. In intensiven Schuss-Gegenschuss Bewegungen beschreibt er eine Vater-Sohn-Beziehung von außerirdischer Intimität, angesiedelt in einer lichtdurchfluteten Stadt am Wasser irgendwo in Europa.
“Der Sohn lässt sich kreuzigen, der Vater kreuzigt.“ Die Leinwand ist schwarz, jemand atmet heftig, es klingt nach Panik oder nach Erregung. Die darauf folgenden Bilder sind ähnlich ambivalent. Sie zeigen in jenem diffusen Licht, das typisch für altmodische Liebesszenen ist, zwei fast nackte Männer in heftiger Umarmung. Erst nach einer Weile stellt sich heraus, dass es sich um einen Vater handelt, der seinen Sohn nach einem Albtraum beruhigt.
Der junge Vater und sein erwachsener Sohn wohnen seit dem Tod der Mutter zusammen in einer kleinen Wohnung irgendwo über den Dächern einer Hafenstadt. Der Sohn besucht die Militärakademie, der Vater war auch einst beim Militär. Das ist auch schon fast alles, was man im Laufe des Films über die äußeren Umstände erfährt. Sokurov konzentriert sich vollständig auf das Gefühl zwischen Vater und Sohn. So sehr, dass man die Emotion selbst auf der Leinwand zu sehen vermeint. Äußerlichkeiten spielen nur in soweit eine Rolle, als sie die Beziehung von Vater und Sohn berühren.
Es ist eine Beziehung von verstörender Intensität und Körperlichkeit. Immer wieder sind beide Männer in Bewegung zu sehen, wie sie über die Dächer toben oder Sport treiben, und immer wieder beobachten sie einander dabei mit den intensiven Blicken von Liebenden. Auch die Dialoge zwischen Vater und Sohn hat Sokurov in der Erzähltradition von Liebesszenen gefilmt, die Gesichter in Großaufnahme, so eng beieinander wie kurz vor dem ersten Kuss. Dazu kryptische Texte, die sich unablässig um einander drehen, um die Verbindung und die unvermeidliche Trennung, die kommen wird.
Entsprechend inzestuös fühlt sich der Film zu Beginn an, aber nach einer Weile verschwimmen in der traumwandlerischen Atmosphäre von »Vater und Sohn« die Alltagskriterien. Mit einem unglaublich präzisen Gespür für Bild, Ton und Montage hat Sokurov eine hermetische Welt geschaffen, einen zeitlosen Ort mit einem Hauch Altes Europa (gedreht wurde in Lissabon und St. Petersburg). Im substanzlosen Licht der frühen Morgen- und späten Nachmittagssonne, das die schöne Altstadt durchflutet, scheint auch die reine, asexuelle und grenzenlose Liebe zwischen Vater und Sohn, die Sokurov postuliert, auf einmal glaubhaft.
Am besten kommt man mit Sokurovs »Vater und Sohn« klar, wenn man den Film wie ein Bild oder Gedicht rezipiert. Erstmal wirken lassen. Farben, Stimmungen, Musik und den wirklich atemberaubenden Tonschnitt aufnehmen und genießen. Sich auf die eigenartige Intensität und den Rhythmus der Bilder einlassen und auf den Nachhall im eigenen Kopf achten. Mehr Sokurov gucken.
Nach »Mutter und Sohn« ist »Vater und Sohn« der zweite Teil von Sokurovs Familientrilogie. Der dritte, »Zwei Brüder und eine Schwester«, ist gegenwärtig in Arbeit.