Die Unschuld
Stellen Sie sich vor, »Das Lehrerzimmer« wanderte aus, sagen wir, nach Japan, wo ein beliebiges Missverständnis zwischen Lehrer, Schüler und Elternhaus bereits unter den unendlichen Höflichkeitsfloskeln zu einem brauchbaren Drehbuchstoff aufblühen würde. Ein tätlicher Angriff eines Lehrers gegenüber einem Schüler ist nun gerade kein beliebiges Missverständnis,… aber der Reihe nach.
Der Fünftklässler Minato (Soya Kurokawa) erregt mehr und mehr die Aufmerksamkeit seiner allein erziehenden Mutter Saori (Sakura Ando), irgendetwas bedrückt das Kind. Zur Rede gestellt, erfährt die Mutter von einem Vorfall zwischen Minato und Lehrer Hori (Eita Nagayama) und konfrontiert den Direktor mit ihrem Wissen. Besser mit ihrem Halbwissen, denn Minato hat seiner Mutter längst nicht alles erzählt. Und der Film seinen Zuschauern auch nicht. Im Gegenteil. Glaubt man, angesichts der Bilder und Beteuerungen der Beteiligten halbwegs unterrichtet zu sein über den Vorfall, belehrt uns das fein gesponnene Drehbuch immer wieder eines Bessern. Und erzählt den Plot noch einmal aus Sicht einer anderen Person. Und das in bester Rashomon-Manier gleich dreifach. „Rashomon“ von Akutagawa Ryūnosuke, 1950 verfilmt von Akira Kurosawa, setzt ein vermeintliches Verbrechen gekonnt zusammen aus drei subjektiv erzählten Perspektiven. Und führt, wie es auch hier der Fall ist, die Zuschauerinnen immer wieder in die Irre. Selbst mit dem Blickwinkel des Lehrers erschließt sich noch nicht, welche immens wichtige Rolle der Hochhausbrand vom Anfang des Filmes spielt, warum Minato seinen Mitschüler Yori offenkundig heftig mobbt und ob auch Yoris gewalttätiger Vater in die kausale Kette verstrickt ist. Für das fertige Bild fehlt ein dritter Anlauf, erzählt aus Sicht der beiden Jungen, und selbst dann stellt man erleichtert fest, dass in einem Spielfilm von Hirokazu Koreeda (»Shoplifters - Familienbande«) auch jetzt noch Interpretationsspielraum übrig bleibt.
alpa kino
Buch: Yūji Sakamoto
Regie: Hirokazu Kore-eda
Darsteller: Sakura Ando, Eita Nagayama, Yuko Tanaka, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata, Akihiro Kakuta, Shidō Nakamura
Kamera: Ryūto Kondō
Musik: Ryūichi Sakamoto
Bundesstart: 21.03.2024
Start in Dresden: 21.03.2024
FSK: ab 12 Jahren