Bevor der Winter kommt

Drama, Frankreich/Luxemburg 2012, 102 min

Paul, der erfolgreiche Hirnchirurg, hat auf Kosten seiner Ehe Karriere gemacht. Seit über 30 Jahren eine wohltemperierte Ehe mit Lucie führend, gerät er erstaunlich rasch ins Straucheln, als ihn eine exotische junge Frau anspricht, die behauptet, er habe sie am Blindarm operiert. Ein Spezialist wie er kann darüber nur schmunzeln, freundlich, aber entschlossen weist er Lou in ihre Schranken. Fortan erhält er täglich einen Strauß roter Rosen. Die Blumenfülle bringt ihn ins Grübeln, die Verunsicherung ist groß. Er vergeigt beinahe eine Operation, sein Chef stellt ihn vorübergehend vom Dienst frei. Die Droge Arbeit fällt weg und Paul auf, wie sehr er sich von seiner Frau entfremdet hat. Da es einfacher ist, sich in ein Abenteuer zu stürzen, als eingetretene Pfade neu zu beleben, trifft Paul die geheimnisvolle Lou wieder, der Kummer seiner Frau stört ihn wenig, sein Freund Gerard wird ihm zum Rivalen. „Bevor der Winter kommt“, rüttelt es alle Beteiligten gefühlsmäßig mächtig durch. Die Scheinidylle bröckelt, Lebenslügen fliegen auf, Konventionen geben keinen Halt mehr. Dann ein Todesfall. Es scheint, als hätten alle eine Katastrophe herbei gesehnt, die den Status quo zerstört. Regisseur Philippe Claudel (»So viele Jahre liebe ich dich«) hat einen zweiten Film mit seiner Lieblingsactrice Kristin Scott Thomas gedreht. Der Plot erinnert stark an Michael Hanekes »Caché«. Daniel Auteuil spielt den ins Schleudern geratenden Hirnchirurgen und indifferenten Ehemann. »Bevor der Winter kommt« führt Mechanismen vor, die Langzeitehen am Laufen halten und eine klassische Rollenaufteilung: Der Mann flüchtet sich in Arbeit, die Frau in Vorwürfe. Eine mäßige Belastung von außen reicht völlig aus, um diese Konstruktion auffliegen lassen. Philippe Claudel hat eine etwas unentschlossene Mischung aus Ehedrama und Thriller inszeniert. Spannend ist sie allemal.
Grit Dora