21. März 2020

Gnadenlose Selbstausbeutung bei Ken Loach

Keine Zeit für garnichts - »Sorry We Missed You«
Gnadenlose Selbstausbeutung bei Ken Loach

Ricky überredet seine Frau Abbie, ihr Auto zu verkaufen, um damit einen Lieferwagen anzuzahlen. Er will sich als Paketbote selbstständig machen, die Familie absichern, die sich von der letzten Finanzkrise nicht erholt hat. Raus aus dem Mietloch, das sie bewohnen, endlich den Traum vom Haus wahr werden lassen. Die beiden Kinder, der pubertierende Sohn Seb (Rhys Stone) und die kleine Tochter Liza Jane (Katie Proctor) sollen es besser haben, studieren. Dafür lässt sich Rick auf den Deal ein, sechs Tage pro Woche jeweils 14 Stunden zu arbeiten. Abbie fährt nun mit dem Bus zu ihren Klienten, sie ist Altenpflegerin und wird nicht nach Stunde sondern Fall bezahlt. Ähnlich prekäre Arbeitsbedingungen wie bei Ricky. Auf den langen Wegen zwischen zwei Klienten organisiert sie per Handy den Alltag, schickt die Kinder zum Sport oder ins Bett und versucht, sich zusätzlicher Auftragszumutungen ihres Arbeitgebers zu erwehren. Keine Zeit für Pausen, nach der überlangen Schicht fallen die beiden am späten Abend vor dem Fernseher in sich zusammen, die schlaflose kleine Tochter knipst aus und schickt die Eltern ins Bett. Ein knallhartes Selbstausbeutungssystem, das nur funktionieren kann, solange keinerlei Sand ins Getriebe gerät. Dabei sind die vier eine liebevolle, einander zugewandte, immer gesprächsbereite Familie, es ist alles da - außer Geld. Und wo kein Geld ist, da ist kein Recht auf Zeit. Der Sohn sieht die Eltern malochen, eine Zukunft, die er sich nicht vorstellen kann, und sucht einen Ausweg in der Kunst, er sprayt mit einer Gruppe Gleichgesinnter. Das ist ihm wichtiger als Schule und wenn das Geld für die Dosen nicht reicht, nimmt er sie eben so mit. Eigentlich Pillepalle. Keine Drogen, keine wirklich kriminellen Sachen. Ein Gespräch mit dem Schulleiter, eins mit den Polizeibeamten und etwas Zeit für die Kunst des Sohnemannes würden reichen, alles ins Lot zu bringen. Doch die fehlt. Ricky kann Abbie nicht beim Klären der Probleme helfen, er ist total übernächtigt, hält den Provokationen Sebs nicht stand und schlägt zu. Ab da dreht sich die Abwärtsspirale, was noch kommt – Stress auf der Schicht, ein Überfall krimineller Jugendlicher, die Ricky beklauen, zusammenschlagen, mit seiner eigenen Pisse begießen – dient nur der Zuspitzung. Schon bei der Ken Loach eigenen, extrem präzisen verknappten Darstellung des stillen Arbeiteralltags ohne besondere Vorkommnisse ist allen außer den direkt Betroffenen klar, dass kein Bemühen, sich nach der Decke zu strecken, groß genug sein kann. Sie ist unerreichbar. 

Ricky gibt sich die Schuld, hält sich für einen Versager, blind dafür, dass der Fehler nicht bei ihm liegt sondern im System, und rast verzweifelt dem Abgrund entgegen.

Mit »I, Daniel Blake« gewann Ken Loach 2016 seine zweite Goldene Palme in Cannes. Er tut das stets mit Filmen, die auf die Palme bringen, soviel Kalauer muss hier mal sein dürfen, auf die Palme gegen den Turbokapitalismus und das ganze neoliberale Wirtschaftsgedöns, das so demokratisch tut, aber soziale Gerechtigkeit außen vor lässt. Ken Loach ist jetzt 83 Jahre alt, er hat diesen Missstand sein Leben lang angeprangert, immer dieselbe Stoßrichtung verfolgt und mit seinen leisen und genauen Filmen ein großes Publikum erreicht. Was kommt, wenn er aufhört?

Vielleicht, hoffentlich mit ähnlicher Konsequenz, Bong Joon Ho, der in seinem nun Oscar-gekrönten »Parasite« mit vollkommen anderen künstlerischen Mitteln auf die perfiden gesellschaftlichen Mechanismen zoomt.

Grit Dora