25. Juli 2018

Besonders perfide ist Alters Kehrtvolte – Selten wird ein Horrorfilm gefeiert wie dieser. Zu Recht?

Pro & Contra »Hereditary« – Ein gnadenloses trashverdächtiges Horrorfinale oder ebenso enttäuschend wie das Aus der DFB-Elf
Besonders perfide ist Alters Kehrtvolte – Selten wird ein Horrorfilm gefeiert wie dieser. Zu Recht?

Selten wird ein Horrorfilm gefeiert wie dieser. Zu Recht? Die Redaktion des Kinokalender Dresden ist sich uneins.

Pro:

Es beginnt mit dem Tod der Großmutter. Ellen sei eine sehr zurückhaltende, distanzierte Frau gewesen, sagt ihre Tochter Annie (Toni Collette) auf der Beerdigung. Ziemlich schnell zeigt sich, dass sie und ihre verstorbene Mutter ein mindestens problematisches Verhältnis hatten. Annie ist Künstlerin, ihre Werke sind modellhafte, stark autobiografische Miniaturen. Gleich in den ersten Szenen des Films, wenn Annie in ihrem Studio sitzt und mit Spezialwerkzeug an ihren winzigen Arbeiten feilt, zeigt sich, dass Horror auch eine Frage der Proportionen ist. Nicht nur groß kann gruselig sein. 

Die Geschichte einer Kleinfamilie (Mutter, Vater, Sohn, Tochter), die in einem Strudel aus familiären Abgründen versinkt hat Regie-Newcomer Ari Aster in einem kleinen Haus am Waldrand angesiedelt. Es kann nicht gut sein, wenn man so abgelegen wohnt und so beständig aufeinander angewiesen ist. Ziemlich schnell ist auch klar, dass das hübsche winzige Baumhaus im Garten kein guter Ort sein wird. So weit, so genreüblich. 

In diesem eher klassischen Horrorfilm-Setting entwickelt Ari Aster seinen knallharten, packenden Plot und balanciert darin bis kurz vor dem Finale auf dem schmalen Grat zwischen Psychodrama und Gruselfilm. Es ist immer ziemlich finster, der sparsame Sound löst Gänsehaut aus, aber ansonsten verlässt sich Aster zu Recht auf die geniale Toni Collette. Offensichtlich hat er seine Ingmar-Bergman-Hausaufgaben gemacht. So ist »Hereditary« über weite Strecken auch eine herrlich krude Hommage an den großen schwedischen Regisseur und Autor. 

Ja, Familie kann ein Hort des Grauens sein. Soll gar nicht so selten vorkommen. Aber doch eher selten in dieser unerbittlichen Konsequenz. 

Was ist schlimmer – die eigenen Abgründe oder die der anderen? Über weite Strecken leidet man beim Zuschauen die Qualen von Annie mit; Qualen über die sich häufenden Verluste, die Entfremdung und die eigene Verdrängungsleistung. Und irgendwann bricht der Damm. Denkt man – und läuft in die Irre. 

Toni Collettes One-Woman-Show, die dem restlichen Ensemble (Gabriel Byrne, Alex Wolff, Milly Shapiro) zugegebenermaßen extrem wenig Raum lässt, ist bis zum Luft anhalten und Arm kneifen gut gespielt. 

Besonders perfide ist daher Asters Kehrtvolte nach zwei Dritteln des Filmes. Er verweigert eine psychologische Auflösung wie sie etwa Hitchcock in »Psycho« bietet und schockt die Zuschauer mit einem gnadenlosen trashverdächtigen Horrorfinale, das die Wirkung einer Ohrfeige hat. Danach ist man ob dieses krassen Bruchs entweder begeisterter Ari-Aster-Fan oder hat für die nächste Dekade genug vom Horror-Genre.

Wirklich krass. 

Grit Dora

 

Contra:

Mit Vorschusslorbeeren ist das so eine Sache: Steigern sie doch zunächst die Vorfreude auf Kommendes mit einer Art Gütesiegel und bestätigen gleichsam den eigenen guten Riecher für einen künstlerischen Volltreffer in spe. Wenn da nur nicht diese cleveren Marketingmenschen wären, die natürlich wissen, dass sie damit genau jene Skeptiker handzahm kriegen, die sich vom üblichen Werbesprech nicht einlullen lassen. Statt „ein klasse Film“ heißt es dann eben „Der wahnsinnigste Horrorfilm seit Jahren und ein modernes Meisterwerk“ oder „Der Höhepunkt des Horrorfilms der letzten 50 Jahre“. So geschehen bei »Hereditary«, der überall dort, wo er bereits die Kinos flutet, in Lobhudeleien ertränkt wird.

Mal kurz überlegen: ‚der letzten 50 Jahre‘ würde bedeuten, besser als beispielsweise »Insidious«, »It Follows«, »The Thing«, »Halloween« und »Der Exorzist« – alles Filme, die innerhalb des letzten halben Jahrhunderts entstanden sind und – nicht nur für den Autor dieser Zeilen – zu den Perlen des Horrorgenres zählen. Wir halten fest: Der Marketingmensch ist kein Cineast – oder glaubt tatsächlich, dass »Hereditary« der absolute Überfilm ist.

Nun kann natürlich weder der Film an sich noch sein Regisseur, Debütant Ari Aster etwas für solche Statements. Es gilt, das Werk zu verkaufen, neugierig zu machen... und naiven Kinogängern wie mir dann grinsend den Stinkefinger entgegenzustrecken.

Bitte nicht falsch verstehen: Gegenüber den oftmals billig runtergekurbelten Wackelkamera-Produktionen, von denen »Blair Witch Project« mit viel Wohlwollen noch als gelungenster Vertreter genannt werden kann, ist »Hereditary« ein filmischer Meilenstein. Aster versteht es ganz vorzüglich, Atmosphäre nicht mittels plötzlicher Schreckmomente zu erzeugen, sondern vielmehr dank seiner Schauspieler, die die inneren Abgründe ihrer Figuren nach außen kehren. Ja, irgendetwas stimmt nicht mit diesen Charakteren, aber benennen kann man es nicht.

Solange Aster eine Antwort darauf verweigert und sich stattdessen den innerfamiliären Beziehungen widmet, ist »Hereditary« vor allem eine One-Woman-Show von Hauptdarstellerin Toni Collette. Eine – ganz ironiefrei – oscarreife Leistung, die in ihrer Intensität und Bandbreite markerschütternd ist und die Australierin einige Nerven, schlaflose Nächte und Lebensqualität gekostet haben muss. Sie allein hält den Film zusammen, der sich mehr und mehr als Familiendrama entpuppt, in dem vieles bisher ungesagt geblieben ist. Oder eruptiv am Abendbrottisch zum Vorschein kommt. Drama: 12 Punkte, Horror: zero points.

Das scheint nach 100 Minuten Spielzeit auch Aster aufgefallen zu sein, weshalb er vom (im positiven Sinne) an die Nieren gehenden Familienspaß plötzlich zum Geister-Grusel-Zombie-Sekten-Irgendwas switcht, der den freien Willen der Figuren obsolet macht und eine Auflösung präsentiert, die zum zuvor bedächtig erzählten Zerfall einer scheinbaren Durchschnittsfamilie nicht so recht passen will. Ein Schrecken ohne Ende wäre mir da lieber gewesen als das hier gezeigte Ende mit Schrecken. Das ist nämlich ebenso enttäuschend wie das Aus der DFB-Elf bei der WM. Aber auch da habe ich den Erfolgsversprechungen des Teamchefs im Vorfeld geglaubt, bis es dann doch nur wieder Altbekanntes gab. Mario Gómez zum Beispiel.

Csaba Lázár

https://splendid-film.de/hereditary-das-vermaechtnis