20. Juli 2018

Scheiß auf die Wahrheit, Hauptsache...

Pro & Contra – »Die brillante Mademoiselle Leïla«
Scheiß auf die Wahrheit, Hauptsache...

Ein Professor und eine Studentin liefern sich einen Krieg der Worte. Erhellendes Lehrstück oder schön dahinplätschernde  hübsche Sentenzen?.

Pro:

Wie bekommt man sein Publikum dazu, gleich von Anfang an aufmerksam zu sein? Der amerikanische Regisseur David Fincher hat da seine eigene Theorie, die er u.a. in »The Social Network« angewandt hat: Er beginnt seinen Film mit einem Dialog, den er absichtlich etwas leiser abspielt als die Umgebungsgeräusche – und so die Zuschauer im Kinosaal dazu zwingt, Tuscheln, Rascheln und Kramen einzustellen, wenn sie das Gesagte hören wollen. Finchers Kollege Yvan Attal scheint Ähnliches im Sinn gehabt haben, startet sein Werk doch ebenso dialoglastig, mit etlichen Interviewschnipseln bekannter Personen, die Verkopftes von sich geben. Kein einfacher Einstieg und doch so passend für das, was in den kommenden 97 Minuten folgt.

Etikettiert als Tragikomödie, ist »Die brillante Mademoiselle Neïla« zunächst weit entfernt davon, zum Schmunzeln einzuladen: Die junge Jurastudentin Neïla Salah (Camélia Jordana) erscheint zu ihrer ersten Vorlesung mit Verspätung und wird sogleich von ihrem Dozenten Pierre Mazard (Daniel Auteuil) vor den Augen ihrer Kommilitonen zurechtgewiesen. Mazard lässt sich dabei zu einigen abfälligen, rassistischen und sexistischen Bemerkungen hinreißen, was ihm etliche Beschwerden einbringt – und einen für ihn unangenehmen Deal mit seinem Boss: Er soll Neïla als Mentor für einen prestigeträchtigen Debattenwettbewerb fit machen und so öffentlichkeitswirksam seine Toleranz beweisen.

Halbe Stunde vorbei, Prämisse gelegt, Zeit zum Lachen? Mais non! Denn statt nun komödientypisch den Gegensatz zwischen Herkunft, Bildungsniveau und gesellschaftlichem Status zu thematisieren, konzentriert sich der Film fortan auf die vielleicht wirkungsvollste Waffe in jedem Konflikt: das gesprochene Wort. „Scheiß auf die Wahrheit, Hauptsache ich bin im Recht“ lautet das mehrfach wiederholte Credo – und das könnte aktueller kaum sein.

»Die brillante Mademoiselle Neïla« ist ein erhellendes Lehrstück darüber, wie Populismus funktioniert. Verpackt in einen leichtfüßig-ernsthaft formulierten wissenschaftlichen Diskurs, wird anhand Arthur Schopenhauers Werk (Achtung! Zungenbrecher) „Eristische Dialektik oder Die Kunst Recht zu behalten“ (1830/31) aufgezeigt, mit welchen moralisch zweifelhaften Kunstgriffen jede noch so absurde Behauptung überzeugend verkauft werden kann.

Nun ist es in meinen Augen relativ unwahrscheinlich, dass einige der heute aktiven Dummschwätzer, die uns momentan die Freude am Zusammenleben nehmen, die Geduld und/oder die geistigen Fähigkeiten besitzen, Schopenhauers Ausführungen zu folgen bzw. bewusst anzuwenden. Nichtsdestotrotz ist es beängstigend, wie bekannt einem vieles davon vorkommt.

Einziger Kritikpunkt aus künstlerischer Sicht: Mag der Film inhaltlich top sein, dramaturgisch bleibt er schwach. Der Handlungsverlauf ist vorhersehbar, spannend sind nur die Dialoge, und ein bisschen mehr Pep in der Inszenierung hätte auch optisch ein paar Pluspunkte gebracht. Andererseits: Wer braucht schon ‘ne schöne Optik, wenn er verbal überzeugen kann?

Csaba Lázár

Contra:

Die mit unbändigem Aufstiegswillen aus der Banlieue kommende Jura-Studentin Neïla Salah, (Camélia Jordana) trifft im Vorlesungssaal auf den arroganten Dozenten Pierre Mazard (Daniel Auteil). Der ist ausgestattet mit allen Insignien der Professorenschaft - ein weißer, überaus gebildeter Mann älteren Jahrgangs, zynisch, elitär, betont viril und gewohnt seine Macht auszuspielen. Ein Mann, der feststellen wird, dass seine überlebten Gepflogenheiten nicht mehr ganz widerspruchslos akzeptiert werden. Er wird vor den Disziplinarausschuss zitiert, weil die Studentenschaft seine geschliffen vorgetragenen rassistischen und sexistischen Ausfälle gegen Neïla nicht einfach hin nimmt. Um Mazard zu halten, trägt ihm sein Chef auf, die ruppige Studentin auf den prestigeträchtigen Rhetorikwettbewerb vorzubereiten. Die unterprivilegierte junge Frau und der überprivilegierte alte Sack sind nun gezwungen, sich miteinander ins Benehmen zu setzen – der Film erzählt ihre spannungsreiche Annäherung. 

Frankreichs bekanntester Mime gibt den Kotzbrocken mit Verve und großem Vergnügen. Daniel Auteil spielt den saturierten Hochschulhengst mit symphatischer, weil unverhohlener Arroganz. Die Sängerin Camélia Jordana hält seiner wuchtigen Ausstrahlung stand und kontert mit viel Chuzpe. Es macht schon Spaß, den beiden zuzusehen und ihren gewandten Dialogen zu folgen. Ganz nebenbei ist der Film auch ein Plädoyer für die Wiederentdeckung und Alltagstauglichkeit französischer Klassiker. 

Nur leider entwickelt sich der Plot so platt wie vorhersehbar. Die Veredelung des Vorstadtwildwuchses gelingt über die Maßen, Neïla ist viel klüger als von den manipulierenden alten Männern gedacht und kommt quasi mühelos in die Endrunde des Rhetorik-Ausscheides. Der Professor verliert an Bosheit und gewinnt an Verständnis. Weichgespült und verständnisvoll gehen die beiden Arm in Arm aus dem Finale. 

Und weil beim Happy End auch hier abgeblendet wird, lässt sich nicht ermitteln, wie es mit Neïlas Beziehung weitergehen wird. Mounir (Yasin Houicha), Neïlas Freund schon aus Kindertagen wird ein Problem mit seiner Liebsten bekommen. Als ehrgeizige Anwältin wird sie weder seine mangelnde Beherrschung der französischen Sprache noch sein unstandesgemäßes Taxifahren dauerhaft tolerieren können, selbst wenn die Liebe ewiglich währen sollte. Die fehlenden Verortungsmöglichkeiten von Aufsteigern, die sich in ihrer Herkunft nicht mehr wieder- und in ihrem neuen Stand keine Heimat finden, thematisiert Regisseur Yvan Attal nicht. Er lässt die hübschen Sentenzen schön dahinplätschern und zeigt auf unterhaltsame Weise, wie weit es eine hübsche Frau mit Migrationshintergrund bei entsprechender Anstrengung mit Hilfe alter weißer Männer im modernen Frankreich bringen kann. Buh.

Grit Dora

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