Das Venedig Prinzip

Dokumentation, Deutschland/Österreich/Italien 2012, 83 min

Kennen wir Venedig nicht zur Genüge? Aus der Literatur, aus Filmen, Bilder des Karnevals oder aus eigener Anschauung. Doch wie sieht es dort wirklich aus? Was ist die Situation derjenigen, die in der berühmten „Serenissima“ dauerhaft leben? In diesem Film kommen sie zu Wort: Die 82-jährige Architektur-Expertin Tudi Sammartini lebt in einem alten Palazzo, den sie teilweise an Touristen vermietet: „Es kommen immer nette Leute“, aber auf den immer von Touristen bevölkerten Markusplatz geht sie dennoch nur nachts, wenn alles still ist. Flavio fährt mit seinem Lastenboot die Habseligkeiten der Menschen aufs Festland, die aus der Lagune wegziehen müssen. Der Gutachter Codato verzweifelt an der Unehrlichkeit seines Metiers, denn reiche Interessenten wollen die Wahrheit nicht hören: Der Mörtel bröckelt, weil die stetigen Wellen der Kanäle sie lockern, und die Restaurierungen der vergangenen Jahrzehnte halten nicht lange. Das Venedig-Prinzip scheint darin zu bestehen, sämtliche Infrastruktur zu vernachlässigen, die „nur“ von den EinwohnerInnen genutzt wird… Was eine Stadt zum Leben braucht - Märkte, Schulen, Krankenversorgung, eine Post - wird in Venedig den touristischen Angeboten geopfert, und die Behörden und Regierungen lassen es geschehen - Venedig wird zum Disneyland. Prognosen sagen, dass 2030 überhaupt niemand mehr in der Lagune wohnen wird. Ein Mann mit einem Schild steht mitten unter Touristen, bringt das Dilemma zum Ausdruck: „I am Venetian, but I have no hotel, no gondola, no souvenirshop“.
Dem Kameramann Attila Boa gelingt es, neue Ansichten des bereits zigfach abgebildeten Venedig zu finden. Beeindruckend ist es, wenn sich ein bizarr großes Kreuzfahrtschiff durch die Gassen schiebt - es läuft gerade in den Hafen Venedigs ein und überragt die Dächer der alten Häuser deutlich. Sehr gelungen ist die Sequenz beim Ball der Dogen, bei der die Filmemacher durch Montage und Sound den Widerspruch zwischen Sein und Schein zu aufzeigen, während reiche Menschen in bunten Kostümen ihren vermeintlichen „Traum“ leben. Aus vielen Blickwinkeln wird die Situation der Stadt deutlich, stets aus Bewohnersicht. Die alten Menschen resignieren, unter den jüngeren sind noch einige, die kämpfen, um ihre Märkte, um den Kindernotdienst. Doch bei aller Misere: Selbst Flavio, der am Ende des Films auf dem Festland wohnen wird und vor dem Fenster statt Kanäle und Palazzi einen Spielplatz und eine Autostraße hat, entdeckt eine gute Seite der Veränderung. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch der Stadt widerfahren wird.
Petra Wille

Buch: Andreas Pichler

Regie: Andreas Pichler

Bundesstart: 06.12.2012

Start in Dresden: 06.12.2012

FSK: o.A.