Vom Hirschkäfer zum Hakenkreuz

Dokumentation, Deutschland 2002, 78 min

Faschismus und Avantgarde: »Vom Hirschkäfer zum Hakenkreuz«, ein filmisches Essay von Madeleine Dewald und Oliver Lammert, beleuchtet anhand von Dokumentarfilmen die Verstrickungen deutscher Filmkünstler in das NS-Regime.
“Der Hirschkäfer tut, was er will. Die Interpretationen ändern sich“, heißt es am Ende des Doku-Essays Vom Hirschkäfer zum Hakenkreuz. Im Bild dazu stehen sich zwei der Titelhelden gegenüber, berühren sich mit ihren Kieferscheren, um sodann friedlich ihrer Wege zu ziehen. Ganz anders liest sich „die Natur“ dagegen in einem zu Beginn der Dokumentation zitierten Nazi-“Kulturfilm“. Kulturfilme waren bis in die 50er Jahre fester Bestandteil des Kinovorprogramms und sind im weitesten Sinne als Dokufilme zu verstehen. „Ruhiges Leben ist in der Natur nicht zu finden… nur ständiger Kampf… das Schwache geht zu Grunde“, tönt es da pseudo-wissenschaftlich aus dem Off zu Aufnahmen eines toten Hirschkäfers, neben dem ein (über)lebendes Exemplar krabbelt.
Zwei Interpretationen, zwei Manipulationen: scheinbar objektive Bilder werden mit einem Kommentar versehen, und schon ist die Interpretation dem Zuschauer mitgegeben. Die Gegenüberstellung der beiden in sich stringenten, nebeneinander gestellt sich aber ausschließenden Erklärungen macht indes skeptisch. Und das soll es auch, geht es den Filmemachern Madeleine Dewald und Oliver Lammert in Vom Hirschkäfer zum Hakenkreuz doch darum zu zeigen, wie Meinungsmache im Film funktioniert und dass sie vor allem eine Frage filmtechnischen Vermögens ist. Mit ihrem Kniff, sich genau der Manipulation zu bedienen, die den nationalsozialistischen Kulturfilmern zu Eigen war, desavouieren die beiden eben diese Manipulation. Im Film Gezeigtes, das wird bei Dewald und Lammert klar, ist ausschnitthaft und aus dem Kontext gerissen.
Zum Verdeutlichen dieses Allgemeinplatzes, der dennoch stets aufs Neue aus dem Bewusstsein von Rezipienten „verschwindet“, bedienen sich die beiden Hamburger Filmemacher einer unkonventionellen Erzählform. Der ständige Wechsel zwischen experimentellen Bildern, herkömmlichen Doku-Passagen und verschiedensten Filmausschnitten fordert den Zweifel der Betrachter immer wieder heraus.
So nähern sie sich ihrem eigentlichen Sujet: der Verwicklung der deutschen Filmavantgarde in den nationalsozialistischen Kulturfilm. Dabei gehen Dewald und Lammert aber kaum linear vor. Vielmehr stellen sie Assoziatives neben Privates und reihen vor allem Unmengen an Informationen aneinander. Auf welche Weise Filmer wie Walter Ruttmann, Hans Richter und Walter Frentz, die in der Weimarer Republik vom unabhängigen Film schwadronierten und sich dadaistisch gaben, dazu kamen, ab 1933 willfährig die Kulturfilme des Dritten Reiches zu drehen, wird dabei wie nebenbei verhandelt.
Zwischen den von Dewald und Lammert klug montierten Interviewausschnitten, Kulturfilmsequenzen und Zeugnissen heutiger Rezeption von faschistischer Ästhetik lugt zwar ein sich selbst abwertendes Bild vom Film-Profi hervor. Diesem, so vermittelt der Film, politisch gleichgültigen, filmvernarrten und in seiner modernistischen Technikbegeisterung im Prinzip konform mit der entmenschlichten Fortschrittstheorie der Nazis gehenden Avantgardisten liegt die Reflexion über Mitschuld fern. Dennoch belässt es das Filmerduo nicht bei dieser vordergründigen Erklärung. In dem Gewebe der vielen Textstücke ihres Filmes findet sich vielmehr ein Nebeneinander von Gründen. Dabei sind die Interpretationen, die sich für die beiden aus ihren Bildern ergeben, in gewissem Sinne ihrerseits Manipulationen - daraus machen Dewald und Lammert kein Hehl.
Durch ihren offenen Umgang mit den Gefahren sowie den Möglichkeiten des Mediums verweisen die beiden darauf, dass Film auch heuer noch zur Suche nach Wahrheit geeignet ist. Genau an solchem Bewusstsein mag es den Avantgardisten der 30er Jahre gemangelt haben: aus einem schrägen Kunstverständnis und elitärer Ignoranz heraus wurden sie schließlich zu Mittätern des NS-Regimes.
Gerd Bauder