Der Italiener

Drama, Russland 2005, 92 min

Über seine Vergangenheit weiß er nicht mehr als die Daten seiner Geburt. Wanja ist sechs Jahre alt und kennt das Leben nur aus dem Fenster eines Waisenhauses. Es ist eine harte Welt, in der es oft Schelte, wenig Herzlichkeit und viele Kinder ohne Zukunft gibt. Andrej Krawtschuk bearbeitet in seinem Film »Der Italiener« ein großes Thema für kleine Zuschauer. Er hält die Kamera auf ein Kinderheim in der russischen Provinz und erzählt die Geschichte Wanjas (Kolja Spiridonow), eines Jungen, der für alle nur noch “der Italiener” ist, seitdem sich ein italienisches Paar zu seiner Adoption entschlossen hat. Doch statt sich dem Willen der Heimleiter zu beugen, ergreift Wanja die Flucht und sucht nach seiner russischen Mutter. Wanja ist sicher: Seine Zukunft liegt in der Suche nach der Vergangenheit. »Der Italiener« ist ein Film ohne Spezialeffekte und ausgefeilte Kameratechnik. Trotzdem hat Krawtschuks Kinowerk die Kritiker in Europa begeistert. Er belegte auf dem Kinderfilmfest der Berlinale den ersten Platz und gewann den Hauptpreis des Zürcher Film Festivals. Nun soll Wanjas Geschichte als russischer Beitrag für den Oscar ins Rennen gehen. Wie konnte ein Kinderfilm der leisen Töne dem Blockbuster »Die neunte Kompanie« den Rang ablaufen? Der wichtigste Grund für die Nominierung zum “besten ausländischen Film” ist die Figur, die dem Film den Namen gibt: “der Italiener.” Kolja Spiridonows schauspielerische Leistung als Wanja ist beachtlich. Scheinbar mühelos zeigt er ein differenziertes und stets überzeugendes Mienenspiel. Spitzbübisch und schuldbewusst, traurig und trotzig schauen seine blauen Augen in die Kamera. Es ist überwiegend Wanjas Perspektive, aus der Krawtschuk das triste Leben im Waisenhaus zeigt. Während die Heimleiter Zigarren schmauchen und vor den Augen hungriger Jungen Hot Dogs verzehren, wickeln die älteren Kinder im Keller kriminelle Geschäfte ab. Für Spielzeug gibt es kein Geld und nur, wenn Fotos für offizielle Dokumente entstehen, darf jedes Kind einen braunen Stoffhasen auf den Arm nehmen. Szenen, die Kinder am Fenster zeigen, ziehen sich leitmotivisch durch den Film. Immer sind es traurige Blicke hinter Glas, immer sehen sie das gleiche Stückchen Welt. Auch Wanja sitzt häufig grübelnd am Fenster und stützt den Kopf auf die Knie. Egal ob es schneit oder regnet, die Aussicht bleibt gleich. Krawtschuk übersetzt die Perspektivlosigkeit der Kinder in ausdrucksstarke Bilder. Das Personal bewegt sich mit Scheuklappen und innerer Distanz durch den Tag. Die Chefin kennt man nur als „Madam“ (Maria Kusnezowa). Auch Wanjas italienische Eltern in spe zeigt Krawtschuk als unsympathische Zeitgenossen, die keinen Tee mögen und so gut in die russische Landschaft passen wie ein Eisbär in die Wüste. Während die Kamera über eine Schneelandschaft fährt, in der Bäume wie Strommasten wirken, sagt der Mann: “Das ist Russland”, worauf die Frau erwidert: “Ein wirklich kaltes Land.” Ein Kommentar mit doppeltem Boden, der nicht nur auf die emotionale Kälte der Heimleitung anspielt, sondern die reduzierte Sicht des Westens auf Russland widerspiegelt. »Der Italiener« hat die OSCAR-Nominierung verdient. Weil er die Grenzen zwischen Kunst und Kitsch kennt, weil er Schicksale beschreibt, ohne sentimental zu werden, und weil sein kleiner Held ein großer Schauspieler ist. Wanja erfährt, woher er kommt, weil er weiß, wohin er will.